Normaler Arbeitseinstieg rückläufig

Jeder Zweite befristet

Von Ulf Immelt

Im vergangenen Jahr war fast jede zweite Neueinstellung befristet. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass 2018 über drei Millionen Kolleginnen und Kollegen mit einer unsicheren Beschäftigungsperspektive arbeiten mussten. Das sind doppelt so viele wie noch 1996. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht.

Besonders besorgniserregend an dieser Entwicklung ist, dass vor allem sachgrundlose Befristungen massiv zunehmen. Allein im Zeitraum von 2001 bis 2018 hat sich der Anteil der Befristungen ohne Sachgrund verdreifacht. Für die Betroffen bedeutet Befristung nicht nur ein erhöhtes Risiko arbeitslos zu werden, sondern häufig auch geringere Löhne, schlechtere Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen wie ihre unbefristet beschäftigten Kolleginnen und Kollegen. Hinzu kommt, dass befristet Beschäftigte doppelt so häufig von Armut betroffen sind – trotz Arbeit.

Befriste Arbeitsverträge waren über viele Jahre vor allem für junge Menschen oder Geringqualifizierte traurige Realität. Inzwischen schützt auch eine berufliche Qualifikation oder ein Studium nicht mehr vor solchen prekären Arbeitsverhältnissen. Der Anteil der Befristungen bei Neueinstellungen ist bei Hochqualifizierten mit knapp zwei Millionen sogar am größten.

Zahlen aus der Arbeitsmarktforschung belegen, dass absolut gesehen die meisten befristet Neueingestellten ausgebildete Fachkräfte sind. Vor dem Hintergrund dieser Personalpolitik erweist sich der Ruf der Kapitalvertreter und der ihnen nahestehenden Teile der Politik nach „Fachkräftesicherung“ bestenfalls als schöne Sonntagsrede. Auch von Ketten- oder sachgrundlosen Befristungen sind nicht mehr nur junge Menschen und Berufseinsteiger betroffen. Inzwischen stecken immer häufiger ältere Kolleginnen und Kollegen in der Befristungsfalle. Wie weit die Praxis der Kettenbefristung reichen kann, zeigt ein Beispiel einer Briefträgerin aus Mecklenburg-Vorpommern, die nach 17 Beschäftigungsjahren und 88 befristeten Arbeitsverträgen ihre Festeinstellung vor Gericht einklagen musste.

Gerichtsurteile zugunsten von befristet Beschäftigten, wie im oben genannten Fall, sind leider sehr selten. Im Gegenteil tragen die Arbeitsgerichte mit zahlreichen Urteilen sogar zum Ausbau dieser Praxis bei. An dieser Stelle müsste eigentlich der Gesetzgeber aktiv werden und die aktuelle Rechtslage zugunsten der Beschäftigten verbessern.

Die Regierungsparteien hatten in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, den Missbrauch von jahrelangen Kettenbefristungen und von Befristungen ohne Sachgrund abzuschaffen. Geschehen ist allerdings bisher noch nichts. Dies verwundert nicht, denn Gesetzesreformen an dieser Stelle würden den Interessen des Kapitals entgegenstehen, da befristete Arbeitsverhältnisse sich als ein äußerst wirksames Disziplinierungsinstrument von Belegschaften erwiesen haben. Sie sind ein wichtiges Puzzleteil in einem Arbeitsmarkt, der durch Unsicherheit, einen gigantischen Niedriglohnsektor, Tarifflucht und die Erosion von Normalarbeitsplätzen gekennzeichnet ist.

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"Jeder Zweite befristet", UZ vom 27. September 2019



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