Was bringt der Tarifvertrag Entlastung?

„Jeden Zentimeter hart erkämpft“

Nach 100 Tagen Ultimatum und anschließenden 77 Tagen Erzwingungsstreik war es im Juli endlich soweit: Ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) konnte für die Unikliniken in NRW vereinbart werden. Darin wird festgelegt, wie viele Pflegekräfte für wie viele Patientinnen und Patienten in jeder Schicht da sein müssen und was passiert, wenn dieser Schlüssel nicht eingehalten wird (UZ vom 29. Juli). UZ sprach mit Jurek Macher, Krankenpfleger am Uniklinikum Essen, über konkrete Verbesserungen durch den TVE und Kritik am Abschluss.

UZ: Du bist Jugendauszubildendenvertreter, hast deine Ausbildung abgeschlossen und arbeitest jetzt als Krankenpfleger auf einer Intensivstation. Was bringt der Tarifvertrag, den ihr an den Unikliniken in NRW erkämpft habt, dir und deinen Kolleginnen und Kollegen konkret für Vorteile?

Jurek Macher: Ich muss vielleicht erst das Negative zur Erläuterung voranstellen. Denn in meinem Bereich herrscht berechtigte Unzufriedenheit darüber, dass es keine direkte Entlastung geben wird. Das liegt daran, dass erst einmal ein EDV-Programm zur Erfassung der Arbeitsbelastung eingeführt wird. Es kann noch bis zu zwei Jahre dauern, bis das etabliert ist. Bis dahin gibt es pauschal Entlastungstage, die sich allerdings eben nicht nach der tatsächlichen Belastung richten. Es ist einerseits gut, diese Entlastung zu haben, hilft uns aber in der aktuellen, akuten Situation nicht.

Ich arbeite auf einer Intensivstation, auf der die Kolleginnen und Kollegen während Corona am stärksten unter der Situation gelitten haben und denen allerlei Versprechungen von der Klinikleitung gemacht wurden, dass die Situation sich verbessern würden, die dann am Ende nicht umgesetzt wurden. Darum haben viele Kolleginnen und Kollegen das Klinikum verlassen. Entsprechend problematisch ist die Situation aktuell.

UZ: Das bedeutet, dass es die technischen Voraussetzungen zur Erfassung des jetzt vereinbarten Personalschlüssels noch nicht gibt und diese erst noch geschaffen werden müssen?

Jurek Macher: Ja, das ist die technische Seite. Andererseits ist das auch ein – zumindest teilweise – vorgeschobenes Argument des Klinikvorstands. Es wäre möglich gewesen, jetzt sofort mehr zu machen, dazu war man aber nicht bereit. Das merken die Beschäftigten und sind zu Recht sauer darüber.

Was schon als eine Verbesserung wahrgenommen wird, ist, was in zwei Jahren kommt und dann darauf aufbauend passiert. In der Pflege werden wir einen ganz vernünftigen Personal-Patienten-Schlüssel haben, mit dem man erst mal arbeiten kann und auf den wir in Zukunft aufbauen können. Und in der Konsequenz wird die Nichteinhaltung dieses Schlüssels dann zu einer Entlastung führen, indem Überlastung durch zusätzliche freie Tage ausgeglichen wird.

In der Zukunft ist das noch ausbaufähig, aber der jetzige Abschluss sieht bereits vor, dass das in fünf Jahren bis zu 13 Tage im Jahr sind, die wir als Ausgleich mehr bekommen können, plus fünf Tage, die dann ausgezahlt werden. Das ist etwas, das wir real spüren werden, und es zwingt den Klinikvorstand, tätig zu werden.

UZ: Und als Auszubildendenvertreter, was würdest du als großes Plus sehen?

Jurek Macher: Wir haben mehr Praxisanleitung erkämpft – also Zeit, in der nicht einfach gearbeitet wird, sondern in der konkret eine Anleitung passiert. Darüber hinaus bekommen auch Auszubildende Entlastungstage. Das sind nicht so viele wie bei den Ausgelernten, aber auch sie bekommen diesen Ausgleich für überlastete Schichten beziehungsweise für ausgefallene Praxisanleitung.

UZ: Du hast gerade angefangen, als ausgelernter Krankenpfleger auf der Intensivstation zu arbeiten und dein ganzes Berufsleben noch vor dir. Wie hast du vor eurem Streik in die berufliche Zukunft geschaut und hat sich dieser Blick jetzt verändert?

Jurek Macher: Ich habe mir nicht die einfachste Station ausgesucht, das war mir schon klar. Aber als ich dort angefangen habe, habe ich gedacht, dass wenn die Situation so bleibt, dann kann ich da auf keinen Fall mein ganzes Leben lang arbeiten. Bei weitem nicht.

Der Blick auf meine Arbeit nach unserem Kampf hat sich insofern geändert, dass ich als neuer Kollege in dem Abschluss schon eine Verbesserung sehe, die in den nächsten fünf Jahren eintreten wird. Und dass das, was wir erkämpft haben, uns auch die Möglichkeit gibt, diesen Kampf fortzusetzen und weitere Verbesserungen zu erkämpfen. Das gibt mir Hoffnung für meine Zukunft in dem Beruf.

Auf meiner Station besteht aber natürlich trotzdem noch die Angst, dass die Leute weiter abwandern. Diese Gefahr ist durch den Tarifvertrag nicht komplett beseitigt worden. Aber die Hoffnung, dass wir uns irgendwie eine Grundlage geschaffen haben, auf der dieser Beruf vielleicht auch wieder erträglich werden kann oder sogar Spaß macht, die gibt es dann schon.

In den verschiedenen Bereichen wirkt der Abschluss aber natürlich auch unterschiedlich.

UZ: Man hat ja sogar den Eindruck, dass die Klinikvorstände begriffen haben, dass sie mit diesem Abschluss Personal werben können. Jedenfalls versuchen sie sich derzeit damit zu schmücken, auch Politikerinnen und Politiker tun das.

Jurek Macher: Ja, das ist so. Die Klinik­leitung bemüht sich darum, mehr Personal anzuwerben. Auch für die Ausbildung wirbt sie jetzt mit dem neuen Vertrag. Das begrüße ich insofern, da wir ja das Personal brauchen.

Auf der anderen Seite ist es zynisch, dass die Klinikleitungen wirklich an jeder Stelle, wo es irgendwie ging – auch mit juristischen Schritten oder Druck in den Bereichen – versucht haben, diesen Streik zu brechen.

Jeder Zentimeter, den wir in diesem Vertrag errungen haben, musste hart erkämpft werden. Uns ist rein gar nichts geschenkt worden, das war wirklich ein harter, langer Kampf. Und nach dem Abschluss hat es keine Woche gedauert, da geht der Klinikvorstand mit einer PR-Kampagne an den Start, die damit wirbt, wie toll dieser Abschluss ist.

Das ist ein Widerspruch, den alle Beschäftigten wahrnehmen und der auch als Schlag ins Gesicht wahrgenommen wird.

UZ: Ihr habt elf Wochen gestreikt. Was ist das, was dir in besonderer Erinnerung bleibt?

Jurek Macher: Das Besondere ist, dass wir im Krankenhaus mit den verschiedensten Bereichen auf die Straße gegangen sind. Wir haben darum gekämpft – und in diesem Punkt auch nicht nachgegeben –, dass alle Bereiche vom Tarifabschluss profitieren. Für mich war es eine Besonderheit, mitzubekommen, was es bedeutet, im Krankentransport zu arbeiten oder im Labor. Wenn ich jetzt eine Probe ins Labor schicke, dann weiß ich, was damit passiert. Ich weiß um die Überlastung der Kolleginnen und Kollegen in diesem Bereich.

Im Krankenhaus wird immer von Teamarbeit geschwärmt. Aber diese Teamarbeit funktioniert nur bereichsübergreifend und das gilt auch für die Entlastung, die wir brauchen. Das habe ich durch den Kampf richtig zu spüren bekommen und gelernt, auch durch das gemeinsame Auf-die-Straße-Gehen. Ich habe viel darüber gelernt, wo und woran es im Krankenhaus hapert, dass wir aber gemeinsam in der Lage sind, da Verbesserungen zu erkämpfen. Das ist für mich das große Besondere.

Gerade deshalb ist es so schade, dass nicht für alle Bereiche die Fortschritte erkämpft werden konnten, die wir eigentlich brauchen. Das betrifft vor allem die „pflegefernen“ oder „patientenfernen“ Bereiche, wie die Klinikvorstände sie nennen. Hier hätten die Kolleginnen und Kollegen mehr Entlastung gebraucht. Und da zeigt sich wieder die Teamarbeit: Denn auch ich als Pflegekraft kann meine Arbeit besser machen, wenn zum Beispiel die Physiotherapie gestärkt wird oder die Logopädinnen und Logopäden.

Der Volksentscheid „DW & Co. ­enteignen!“ – Eine Sackgasse?
Gegen die seit Jahren steigenden Mietpreise und das skrupellose Vorgehen der Immobilienhaie hat die Berliner Bevölkerung für den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“ gestimmt. Doch wie geht es jetzt weiter?
Eine Zwischenbilanz und ein Ausblick auf weitere erforderliche Kämpfe. Diskussion mit Christian Ulmer, DKP Friedrichshain-Kreuzberg und UZ-Autor, Stefan Natke, Vorsitzender der DKP Berlin, und Aktivisten der Berliner Mieterbewegung.
Sonntag, 28. August, 10 Uhr, Zelt auf dem Leninplatz

Rauf mit den Löhnen – Runter mit der Miete!
In Zeiten gesteigerter Verwertungsinteressen und angespannter Wohnungsmärkte erfahren immer mehr Menschen, dass die Wohnungsfrage individuell nicht mehr zu lösen ist. Dabei entstehen im Wohnumfeld und städtischen Raum Suchbewegungen nach praktischer Solidarität. Konkrete Kämpfe von Mieterinnen und Mietern entwickeln sich zu neuer Stadtteilarbeit.
Peter Nowak und Matthias Coers stellen in ihrem Buch „Umkämpftes Wohnen – Neue Solidarität in den Städten“ mittels Text und Bild Initiativen aus dem In- und Ausland vor. Sie fragen, wie Kämpfe um Wohnraum, niedrige Mieten, gegen Verdrängung und die Kämpfe um höhere Löhne und Einkommen zusammengeführt werden können.
Auf dem UZ-Pressefest stellen sie ihr Buch im Rahmen des Programms der Marx-Engels-Stiftung vor: Samstag, den 27. August, um 18.30 Uhr im Kino ­Babylon (Kino 2)

Ein Kampf um unsere Würde – ­Tarifvertrag Entlastung
Wochenlang kämpften und kämpfen Kolleginnen und Kollegen aus den Krankenhäusern in Berlin, Jena, Mainz, NRW und an anderen Orten für einen Tarifvertrag Entlastung. Der Personalmangel kostet bereits jetzt Menschenleben. Die Forderung der Streikenden ist klar: feste Personalschlüssel für alle Bereiche und Entlastungstage bei Unterschreitung der Grenzen. Politik und Kapital geht es darum, dass die Ware Arbeitskraft möglichst günstig zu haben ist. Da ist das Geld für eine gute Gesundheitsversorgung nicht drin.
Wir diskutieren mit Kolleginnen und Kollegen aus den Krankenhäusern und Unterstützerinnen und Unterstützern darüber, was wir brauchen, um diesen Kampf gewinnen zu können!
Samstag, 27. August, 12.30 Uhr, Debattenzelt auf dem 21. UZ-Pressefest

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"„Jeden Zentimeter hart erkämpft“", UZ vom 12. August 2022



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