Die jährliche Tagung von IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank in Washington fiel in der vergangenen Woche ungewohnt dürftig aus. Sie fand als Videokonferenz statt. In früheren Jahren waren immer die Finanzminister und Chefnotenbanker aus vielen Ländern angereist, hatten Reden gehalten und Deals beraten. Zuweilen kamen auch Abmachungen über Großkredite zustande, denn auch die Spitzenkräfte der großen Banken waren präsent, fädelten neue Geschäfte miteinander und mit den Politikern ein und machten nebenbei auch Reklame für ihre Institute. Alles vorbei. Per Videozuschaltung lassen sich keine Geschäfte machen. Stattdessen wurde eine Zeitenwende ausgerufen.
Die sieht so aus: Die IWF-Chefin Kristalina Georgiewa beschwor einen neuen „Bretton-Woods-Moment“. Im Juli 1944, ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, hatten im Örtchen Bretton Woods an der Ostküste der USA die kapitalistischen Siegermächte eine neue Finanzweltordnung verabredet, den US-Dollar zur Weltwährung bestimmt, den Internationalen Währungsfonds gegründet und den bei den USA hochverschuldeten Staaten damit Unterstützung versprochen. Das ein Viertel Jahrhundert dauernde „goldene Zeitalter des Kapitalismus“ hatte auch mit dieser relativ vernünftigen Finanzordnung zu tun.
Ist Frau Georgiewas Beschwörung nur billige Reklame oder kann man sie als Abkehr von dem interpretieren, was das Finanzkapital und seine Politiker nach dem Ende der Weltfinanzordnung von Bretton Woods, also ab Mitte der 70er Jahre den im Kapitalismus lebenden Menschen zumuteten? Dieses Programm, das als „Washington-Konsens“ benannt und berüchtigt wurde und das die Liberalisierung der Finanzmärkte, freien Kapitalverkehr, Senkung der Gewinnsteuern, Privatisierungen, einen schlanken Staat und – am wichtigsten – niedrige Löhne vorsah, gilt bis heute als Richtschnur des IWF, der deshalb auch nur bei Erfüllung dieser „Reformen“ Finanzhilfe gewährte. Um die Corona-Krise zu bekämpfen, empfahlen Georgiewa und ihre Berater offiziell, sollten Notenbanker und Finanzminister jede staatliche Sparsamkeit vermeiden und alles vorhandene Geld nur so raushauen und sich hemmungslos verschulden.
Mehr noch, die alten kapitalistischen Länder, die in der Sprache der Konferenzteilnehmer als „fortgeschrittene Volkswirtschaften“ bezeichnet werden, erhalten vom IWF den Rat, keine Pläne dafür zu entwickeln, wie nach der Pandemie die öffentlichen Haushalte mittels Sparprogrammen wieder gesundet werden können. Sie brauchten jetzt keine Pläne für Steuererhöhungen und/oder für Ausgabenkürzungen zu machen. Denn bis 2025 würden ihre Staatsfinanzen ohnehin wieder in Ordnung kommen. Während in diesem Jahr die Verschuldung der Staaten auf den historischen Höchststand von 100 Prozent, gemessen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, erreichen werde, werde sie bis zur Mitte des Jahrzehnts auch ohne Sparmaßnahmen wieder auf das vor der Corona-Krise geschätzte Niveau zurückfallen. Der einfache Grund für diese einfache Lösung der Probleme besteht nach Meinung der IWF-Experten im rekordniedrigen Zinsniveau. Bei Nullzinsen und einem Wachstum über Null werde ihre Staatsschuld von selbst schrumpfen.
Dieser gute Rat des IWF unterscheidet sich in der Tat von dem, der 2010 nach der großen Finanzkrise erteilt wurde, als Sparen angesagt war. Vor allem aber, er gilt nur für Staaten, die in der Lage sind, locker und jederzeit Kredit zu bekommen. Die anderen freilich könnten sich das nicht leisten. Wenn sie sich zusätzlich verschuldeten, würden die Zinsen und die Kosten ihres Schuldendienstes nur weiter steigen. Sie bleiben auf karitative Zuwendungen der reichen Staaten angewiesen, ihre Wirtschaftspolitik bleibt nicht-souverän. Von einem „Bretton-Woods-Moment“ kann also nicht die Rede sein. Die Herrschaft der Finanzmärkte und der Washington-Konsens bleiben IWF-Doktrin.