Zum Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands

Ist die Armut ein Skandal?

Von Philipp Kissel

Grober Unfug!“: So bezeichnete der Professor der TU Dortmund, Walter Krämer, den Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Das macht er seit Jahren und er ist nicht der Einzige. Für viele Vertreter der bürgerlichen Klasse gibt es schlicht und einfach keine Armut in Deutschland, höchstens in Ausnahmefällen. Denn schließlich sei die Armutsgefährdungsquote von 60 Prozent des mittleren Einkommens gar nicht aussagekräftig, sondern nur relativ. Das Einkommen steige, also steige auch die Armut – das könne ja gar nicht sein. Das versteht der Herr Professor nicht, da hilft es auch nicht wenn man in Dortmund lebt – inmitten der Region, deren Armut zugenommen hat, obwohl die bundesweite geringfügig um 0,1 Prozent gesunken ist. Beides ist nichts Neues, weder dass die Besitzer der Produktionsmittel und ihre Schreiberlinge die Ansprüche jener, deren Arbeitskraft sie ausbeuten, als maßlos und völlig übertrieben darstellen, noch dass die Lage der Werktätigen sich verschlechtert, während das Kapital wächst und gedeiht. Regierung und Medien versuchen alles, um die statistische Erfassung und Darstellung der Lage möglichst zu verzerren, damit nicht zu sehr ins Auge sticht, was ohnehin erkennbar ist.

Dies legt Ulrich Schneider, der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, in dem Ende letzten Jahres erschienenen Buch „Kampf um die Armut“[1] sehr gut dar. Früher nutzte man den Warenkorb, um zu ermitteln, was der Mensch zum Leben braucht. Die Zusammenstellung dieses Warenkorbs war natürlich sofort umstritten. In den 80er Jahren hätten nach einer Neuzusammenstellung die Regelsätze für die Sozialhilfe um 30 Prozent angehoben werden müssen. Das ging zu weit – also änderte man das Statistikmodell. Nun wird das Minimum an dem gemessen, was die ärmsten 15 Prozent der Haushalte ausgeben – eine Spirale nach unten. Die relative Armut wurde zunächst mit 50 Prozent des Durchschnittseinkommens gemessen. Beim ersten Armutsbericht der Bundesregierung 2001 waren somit 10,2 Prozent arm. Wenn man aber nur das mittlere Einkommen als Messlatte nimmt, waren es 6,2 Prozent – seitdem zog man lieber den sogenannten Median heran. Was käme also heraus, wenn man einen aktuellen Warenkorb zusammenstellen würde, der dem aktuellen Stand der Produktivkräfte und dem kulturellen und historischen Niveau in Deutschland entspräche und das mit dem verfügbaren Einkommen abgliche? Wahrscheinlich wesentlich höhere Zahlen als die des Armutsberichts.

Die sind schon erschreckend genug: Bundesweit haben 15,4 Prozent der Bevölkerung weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Bei einem Single ohne Kinder sind das weniger als 917 Euro. Oder auch: Wer 920 Euro im Monat zur Verfügung hat, gilt nicht als armutsgefährdet. Bei einer Familie mit zwei Kindern sind es je nach Alter der Kinder zwischen 1 900 und 2 100 Euro. Im Ruhrgebiet hat die Armut zugenommen. In der Region Duisburg/Essen schnellte die Quote in den letzten zehn Jahren um 33 Prozent auf 19,3 Prozent, ein „Erdrutsch“. Spitzenreiter im Ruhrgebiet bleibt Gelsenkirchen mit 22,8 Prozent. Dort sind 40 Prozent der Kinder arm! In den meisten ostdeutschen Bundesländern ist die Armut ebenfalls weit über dem Bundesdurchschnitt.

Besonders betroffen sind Alleinerziehende mit 41,9, Jugendliche unter 25 mit 24,6 und vor allem Erwerbslose mit 57,6 Prozent. Der Bericht stellt fest, dass die Armutsquote in den letzten Jahren gestiegen ist, obwohl die Arbeitslosenquote gesunken sei. Tatsächlich sind aber mit 3,6 Millionen „Unterbeschäftigten“ – dort werden im Unterschied zur Arbeitslosenquote auch die Erwerbslosen gezählt, die in einer Maßnahme oder krank gemeldet sind – weiterhin sehr viele Menschen ohne Beschäftigung. Der diesjährige Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands versucht, die Lebenslagen und Ursachen von Armut der verschiedenen Gruppen zu analysieren, eine sinnvolle und interessante Änderung. Im Kapitel zur Arbeitslosigkeit stellt der Verband fest, dass Deutschland die europaweite Statistik der Armut bei Erwerbslosigkeit anführt. Die meisten Erwerbslosen bekommen mittlerweile nicht mehr Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (ALG I), sondern Hartz IV (ALG II). Das sind zwei Drittel aller Erwerbslosen und insgesamt 4,3 Millionen Erwerbsfähige. Davon haben 2014 laut IAB-Kurzbericht 3,1 Millionen Menschen mehr als 21 Monate in den vergangenen zwei Jahren Hartz IV bezogen, waren also Langzeitbezieher. Davon waren allerdings die allermeisten immer wieder erwerbstätig, teilweise während des Leistungsbezugs. Die meisten sind in der Leiharbeits-Spirale gelandet. Der Bericht geht davon aus, dass gut vermittelbare Arbeitskräfte auch relativ häufig vermittelt werden, die anderen aber nicht. Bei 600 000 gemeldeten offenen Stellen (Stand Oktober 2015) und 3 600 000 Arbeitslosen bewerben sich theoretisch sechs Erwerbslose auf eine Stelle. Man kann schlussfolgern, dass die Zunahme der Armut aus der zwar gesunkenen, aber weiterhin hohen Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen Niedriglohn resultiert.

Der Wohlfahrtsverband fordert die Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 491 Euro. Das ist eine gute Richtung, dürfte aber zu niedrig sein. Hierfür bedürfte es einer Neuberechnung auf Grundlage eines neuen Warenkorbs, der dem Stand der Entwicklung entspricht. Leider lässt der Bericht unerwähnt, dass mit dem „Vereinfachungsgesetz“ weitere Verschärfungen des Sozialgesetzes geplant sind, die eine Ausweitung der Sanktionen und die Begrenzung der Heizkostenübernahme und somit die weitere Absenkung des Regelsatzes für viele Menschen vorsieht. Das Kapitel zur Armut von Flüchtlingen ist sehr informativ. Ergänzt werden müsste es um die Forderung des Bleiberechts für alle Flüchtlinge, auch und gerade für die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“. Werden sie in die Illegalität gedrängt oder nur geduldet, sind sie zu Lohndumping und schlechten Arbeitsbedingungen gezwungen. Die „Asylpakete“ werden die Armut der Geflüchteten verschärfen, aber auch Auswirkungen auf alle Lohnabhängigen haben. Zu guter Letzt ist die Leiharbeit ein wesentliches Hartz-Übel (es war das erste Hartz-Gesetz), die abgeschafft werden muss, um dauerhaften Niedriglohn und Unsicherheit einzugrenzen. Arbeitsministerin Nahles (SPD) verschärft zwar das SGB, Leiharbeit und Werkverträge werden aber nicht einmal kosmetisch behandelt.

Während Professoren und Minister die Armut kleinreden und schmücken müssen, müssen sich die Betroffenen organisieren und zusammenschließen. Nötig ist die Organisierung von Geflüchteten, Erwerbslosen und Beschäftigten entlang ihrer jeweils spezifischen Interessen als Voraussetzung für ihre Verbindung und den gemeinsamen Kampf. Zunächst gegen die anstehenden Angriffe und schließlich für ihre gemeinsame Befreiung. Der Skandal – die kapitalistische Normalität der wachsenden Armut – kann dabei Antrieb sein.

[1] Ulrich Schneider (Hrsg.): Kampf um die Armut, Westend-Verlag 2015

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"Ist die Armut ein Skandal?", UZ vom 11. März 2016



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