Der Krieg im Nahen Osten, die Repressionen in Israel und der Kampf dagegen • Ein Interview mit Reem Hazzan

Israel betreibt modernen Kolonialismus

Übersetzung Melina Deymann

Mehr als 40.000 Tote in Gaza, dazu unzählige noch verschüttete Opfer, die Ausweitung des Krieges auf die Westbank, Angriffe Israels auf den Libanon und Syrien. Unter den Augen der Welt tobt ein Genozid an den Palästinensern. Doch auch in Israel regt sich Widerstand gegen die zionistische Kriegspolitik der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Auch diesem Widerstand wird mit Repressionen und Gewalt begegnet, selbst wenn er sich „nur“ auf die Forderungen nach einem Deal zur Freilassung israelischer Geiseln bezieht. UZ sprach darüber und über die Frage, was der rassistische Zionismus dem Imperialismus nützt, mit Reem Hazzan, der Internationalen Sekretärin der Kommunistischen Partei Israels.

UZ: Reem, fassungslos blickt die Welt auf den Krieg der israelischen Regierung gegen das palästinensische Volk. Kannst du uns etwas darüber sagen, wie die Gesellschaft in deinem Land den aktuellen Konflikt sieht?

Reem Hazzan: Jahre der Besatzung, der Belagerung, des zunehmenden Militarismus und der Aufwiegelung gegen das palästinensische Volk haben die israelische Gesellschaft zu der Überzeugung gebracht, dass das palästinensische Volk kein Recht auf Leben und Freiheit hat. 30 Jahre nach den Osloer Abkommen – die offensichtlich nie dazu gedacht waren, einen unabhängigen palästinensischen Staat zu schaffen – scheinen die Hoffnungen auf Frieden unrealistisch und unwichtig zu sein. Die Regierung Netanjahu hat das Trauma der Menschen hier nach dem Angriff vom 7. Oktober auf zynische Weise ausgenutzt, um die Massaker in Gaza fortzusetzen und jede Chance auf einen Waffenstillstand und ein Abkommen für alle zu sabotieren.

Hinzu kommt, dass der Aufstieg der extremen religiösen Rechten an die Macht, der auch die schmalen übriggebliebenen Ränder der Demokratie untergräbt, zu einer Situation geführt hat, in der die israelisch-jüdische Gesellschaft, getrieben von einem kollektiven Trauma, vor allem die Rückkehr der israelischen Geiseln fordert, nicht aber ein umfassendes Abkommen, kein Ende dieses völkermörderischen Krieges in Gaza und keine dauerhafte Lösung.

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Reem Hazzan

Die kontinuierliche Unterstützung der israelischen Politik durch die westlichen Mächte unter Führung der US-Regierung ist ein Beweis für die heuchlerischen Positionen und die Doppelmoral, wenn es um das Leben der Palästinenser geht. Es sind dieselben Kräfte, die in den letzten 20 Jahren den Irak, Afghanistan, Syrien, den Jemen oder Libyen überfallen und zerstört haben. Eine solche Geisteshaltung, eine solche Unterstützung vermittelt der israelischen Gesellschaft die Botschaft, dass sie das Recht haben, zu töten und zu besetzen. Wir wissen sehr gut, wie internationale Sanktionen wirken, wenn ein Land den Inte­ressen des Westens oder der NATO „trotzt“. Nicht so im Fall von Israel. Die diplomatische und militärische Unterstützung, die Israel erhält, signalisiert nicht die Absicht, den Krieg gegen das palästinensische Volk zu beenden.

Innerhalb der israelischen Bevölkerung gibt es die palästinensische Gesellschaft – Palästinenser, die nach der Nakba 1948 auf ihrem Land und in ihren Häusern geblieben sind. Seit dem Beginn des Krieges hat der Faschismus den Geist der Regierung Netanjahu und der Öffentlichkeit klar erfasst, das lässt sich nicht mehr verbergen: Unterdrückung, Verfolgung von Arbeitern, Künstlern und Aktivisten, Verhaftungen, strenge Beschränkungen jeglicher politischer Aktivität, die sich klar gegen den Krieg in Gaza richtet, Verfolgung unserer Abgeordneten (die KP Israels ist Teil der Listenverbindung Chadasch – Die Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung, die in der Knesset vertreten ist, Anm. d. Red.) und der echten linken Juden in Israel, die sich dem Völkermord und dem Militarismus widersetzen. Premierminister (oder Hauptverbrecher) Netanjahu sagte bereits im Oktober, dass Israel an vier Fronten kämpft: in Gaza, im besetzten Westjordanland, im Norden – Hisbollah und Iran – und innerhalb Israels, wobei er sich auf die palästinensischen Bürger Israels bezog.

Es ist wirklich eine Katastrophe, dass die Öffentlichkeit in Israel die Massenvernichtung und den Hunger in Gaza, die ethnischen Säuberungen im Westjordanland und die täglichen Verbrechen der von der israelischen Armee unterstützten und bewaffnete Siedler nicht sehen will oder sich nicht dafür interessiert. Dieser Krieg hat die Gewinne der israelischen Rüstungsindustrie um 24 Prozent gesteigert. Das Einkommen von über 150.000 Familien in Israel hängt von der Militärindustrie ab. Die militärische Unterstützung, die Israel von den USA und Europa erhält, kommt sicherlich der Militärindustrie in diesen Ländern zugute. Diese Unternehmen sind auf Kriege und Konflikte angewiesen, um ihre Produkte zu testen und sicherzustellen, dass sie „der Sache dienen“.

UZ: Wie sind die sozialen Auswirkungen der aktuellen israelischen Kriegspolitik?

Reem Hazzan: Der neue Haushaltsvorschlag sieht nun vor, den Menschen, die sie brauchen, alle „Sozialleistungen“ zu streichen. Die Lebenshaltungskosten, die ohnehin schon schrecklich hoch waren, haben noch einmal deutlich zugenommen. Die neuen Steuern werden die Arbeitnehmer, die Behinderten, die älteren Menschen, die Alleinerziehenden und die Mittelschicht treffen – nicht die großen Unternehmen und das Kapital. Die Kriegskosten gehen zu Lasten der Arbeitnehmer und der Schwachen – falls die Reichen darunter zu leiden beginnen sollten, könnten die Behörden eine Änderung in Betracht ziehen.

Zehntausende sind in diesen Tagen auf der Straße und obwohl wir in vielen politischen Fragen nicht mit ihnen übereinstimmen, muss ich das extrem brutale Vorgehen der Polizei zur Kenntnis nehmen, mit dem diese Proteste unterdrückt werden. Man fragt sich, wann diese Massen begreifen werden, dass diese Unterdrückung auch andere Aspekte ihres Lebens betreffen wird, wenn dieses politische System und die Werte, auf denen es beruht, nicht radikal geändert werden. Es kann keine Demokratie mit Apartheid oder Besatzung oder Faschismus geben.

Es reicht nicht aus, die Absetzung dieser Regierung und den Sturz Benjamin Netanjahus durch Neuwahlen zu fordern – die gesamte Mentalität und Realitätswahrnehmung muss sich ändern, um diesen Krieg tatsächlich zu beenden, und das kann nur durch einen internen Wandel in Israel mit Unterstützung durch internationalen Druck geschehen.

Diejenigen, die eine Demokratie in Israel anstreben, können nicht zulassen, dass der Krieg, die Besatzung und der Faschismus weitergehen. Das ist keine gültige Gleichung in der Geschichte der Kämpfe der Menschen für Befreiung und Freiheit.

Der Zionismus als politische Bewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Seinen Begründer, Theodor Herzl, bewegte das Ausmaß des französischen Antisemitismus, das durch den Dreyfus-Skandal ans Licht kam, und die immer wieder aufflammende Pogrome in Osteuropa. Der Aufschwung des Antisemitismus geht mit dem Aufstieg des modernen Imperialismus und seiner extremen Entwicklung des Rassismus als ideologisches Unterdrückungsinstrument einher. Herzl schloss daraus, dass die Juden von den Nationen, in denen sie leben, nicht assimiliert werden können und dass die einzige Lösung der „Judenfrage“ in der Gründung eines „jüdischen Staates“ besteht, in dem alle Juden zusammenkommen. Er entwickelte den Zionismus als eine ethnisch-kulturelle nationalistische Ideologie, die die Errichtung eines jüdischen Staates durch die Besiedlung eines Landes außerhalb Europas anstrebte.

Der politische Zionismus ist eine reaktionäre bürgerlich-nationalistische Ideologie, die auf zwei Voraussetzungen beruht: erstens, dass die Juden der ganzen Welt eine Nation bilden, und zweitens, dass der Antisemitismus unheilbar und ewig ist. Diese Sicht sieht die Judenheit in einem biologischen und einem geistigen Sinn als Nation: dass sie die buchstäblichen Nachkommen der Juden der Antike sind und dass sie einen gemeinsamen Hintergrund, ein gleiches „historisches Gedächtnis“, eine gemeinsame Religion und eine gemeinsame Kultur besitzen. Dieses „mystische Band“ können nach diesem Verständnis Nichtjuden nicht verstehen oder teilen.
Der Zionismus ist heute die Staatsideologie Israels.

UZ: Während das israelische Militär die Menschen in Gaza bombardiert, haben die Siedler in der Westbank eine weitere Front gegen die dort lebenden Palästinenser eröffnet. Kannst du uns beschreiben, was dort vor sich geht?

Reem Hazzan: Die Front im Westjordanland ist schon seit langem eröffnet. Seitdem diese Regierung an die Macht gekommen ist, haben die Pogrome und Übergriffe der Siedler an Intensität zugenommen und seit Oktober letzten Jahres haben sie freie Hand, alle Verbrechen gegen Palästinenser zu begehen. Seit Oktober wurden mehr als 600 Palästinenser von der israelischen Besatzungsarmee im Westjordanland getötet, darunter mehr als 140 Minderjährige.

Bereits 2017 stellte der jetzige Finanzminister Bezalel Smotrich (selbst ein Siedler) den „Israel‘s Decisive Plan“ vor – eine klare Anweisung an die Regierungsstellen, mit den Vorbereitungen für die Ansiedlung einer weiteren halben Million Siedler im Westjordanland zu beginnen. Das bedeutet, dass es nach seinen Plänen niemals einen unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 geben wird und keine Palästinenser im Westjordanland bleiben werden, um diesen Plan umzusetzen.

Die palästinensischen Gemeinden im Westjordanland werden täglich von Siedlern angegriffen, die von der israelischen Armee beaufsichtigt und bewaffnet werden. Sie stehlen Viehherden, zerstören Ernten, brennen Autos und Häuser nieder. Die täglichen physischen Angriffe haben dazu geführt, dass etwa 20 dieser Gemeinden ihr Land verlassen haben, um einen sichereren Ort zum Leben zu finden. Die Invasion des Flüchtlingslagers Dschenin durch die israelische Armee, die Zerstörung der Infrastruktur, von Häusern und Geschäften, die Bombardierung von Zivilisten mit Drohnen und die Unterdrückung jeglicher Anzeichen von Widerstand gegen die Besatzung im gesamten Westjordanland zeigt deutlich: Sie wollen diese Orte unbewohnbar machen – genau wie Gaza.

UZ: Der Internationale Gerichtshof hat im Juli entschieden, dass die jüdischen Siedlungen illegal sind. Wie werden solche internationalen Gerichtsentscheidungen oder UN-Resolutionen von der israelischen Gesellschaft aufgenommen?

Reem Hazzan: In der Nakba und bis heute im Westjordanland und im Gazastreifen besteht die Agenda der israelischen Regierung darin, die rassische Vorherrschaft über alle von ihr kontrollierten Gebiete zu erlangen. Die Aneignung natürlicher Ressourcen, die Vertreibung von Menschen von ihrem Land, all das ist moderner Kolonialismus im Dienste des Imperialismus.

Die Siedlungen im Westjordanland werden schon seit langem als illegal eingestuft, auch von der US-Regierung und der Europäischen Union. Aber es wurden nie wirkliche Schritte unternommen, um aus dieser Bewertung Schlussfolgerungen zu ziehen und umzusetzen und tatsächlich alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Siedlungen aufzulösen und einen unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu errichten, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt und einer Lösung, die zur Rückkehr der Flüchtlinge gemäß den UN-Resolutionen führt.

Israel hat die Resolutionen der Vereinten Nationen und des UN-Sicherheitsrates in den letzten 77 Jahren ignoriert. Die israelischen Regierungen haben jahrzehntelang das Völkerrecht ignoriert, ohne dass dies Konsequenzen hatte. In der Vergangenheit haben führende israelische Politiker international vielleicht ihre diplomatische Rolle besser gespielt, aber heute sieht die Welt zu, wie eine ganze Bevölkerung ausgelöscht wird. Wenn die israelischen Mainstream-Medien systematisch die Positionen und die Agenda der Regierung wiedergeben, ist es das, was die Öffentlichkeit verinnerlicht. Warum also sollten die Mainstream-Israelis denken, dass es falsch ist, wenn Israel in jedem Krieg von den Konsequenzen freigesprochen wurde? Warum sollte ein normaler Israeli im Jahr 2024, nach jahrelanger Gehirnwäsche durch die Medien und das Bildungssystem, das internationales Recht oder seine Resolutionen respektieren, wenn Israels aufeinanderfolgende Regierungen die Vereinten Nationen verhöhnt haben und die USA bei jeder bedeutenden Entscheidung ein Veto einlegen? Die israelische Gesellschaft respektiert diese Resolutionen nicht, weil ihre Regierung seit 1947 nie für Verstöße gegen sie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Die Massendemonstrationen, die ein Ende dieses Krieges und der ethnischen Säuberung fordern, geben dem Kampf und der Standhaftigkeit des palästinensischen Volkes große Kraft. Sie sollten sich zu einer tatsächlichen Änderung der Politik in Bezug auf die militärische Unterstützung und die Bemühungen um die Anerkennung eines palästinensischen Staates entwickeln, da dies unmittelbare Auswirkungen auf den Status der Palästinenser haben könnte.

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Trotz Repressionen geht die KP Israels auf die Straße. (Foto: Chadasch)

UZ: Du hast schon von den Repressionen gegen die Proteste gegen die Regierung berichtet. Du selbst wurdest im August von der Polizei verhaftet. Was war geschehen?

Reem Hazzan: Israel ist schon seit langem auf dem Weg zum Faschismus. Apartheid, Rassismus, extremer Nationalismus sind an der Tagesordnung. Seit Oktober waren wir von der Kommunistischen Partei Israels die ersten, die gegen den Krieg auf die Straße gingen. Unsere Proteste wurden unterdrückt und jede von uns geplante Aktivität wurde von der Polizei verboten – sogar in geschlossenen Räumen!

In Haifa plante die Ortsgruppe der Kommunistischen Partei Israels im Rahmen unserer humanitären Hilfskampagne #Think_Gaza – eine Kampagne, die wir im Mai gestartet hatten, um Spenden für humanitäre und medizinische Hilfe in Gaza zu sammeln – eine Vorführung des neuen Films des Regisseurs und Genossen Muhammad Bakri, „Janin Jenin“ (Der Fötus von Jenin, eine Fortsetzung des 2002 gedrehten Films über das Lager Jenin „Jenin, Jenin“, der 2022 vom israelischen Gericht verboten wurde). Die faschistische Rechte begann einige Tage vor der Veranstaltung, gegen uns zu hetzen. Ich wurde festgenommen und stundenlang von der Polizei verhört, weil wir angeblich den verbotenen Film vorführen wollten. Später wurde ich freigelassen, nur um am nächsten Tag vorgeladen zu werden und vom Polizeichef von Haifa eine Anordnung zur Schließung unserer Büros überreicht zu bekommen, in der behauptet wurde, dass die Vorführung des Films „Belästigung oder Unordnung“ verursachen würde. Die Polizei wusste, dass es sich um einen anderen Film handelte, und sie wusste auch, dass sie uns die Vorführung des Films nicht verbieten konnte. Daher griff sie zu anderen Mitteln, die es ihnen ermöglichten, unsere Büros zu schließen. Das ist etwas, was wir nicht einmal während des Militärregimes, das 1966 endete, erlebt haben. Das war ein weiterer Beweis für Faschismus. Die Polizei ist zu einem Instrument in den Händen von Itamar Ben-Gvir geworden, um Palästinenser und die Linke in Israel zu unterdrücken. Wer sonst als eine kriminelle Regierung, die eine Eskalation anstrebt, übergibt das Ministerium für Innere Sicherheit an eine Person, die wegen Terrorakten verurteilt wurde?

UZ: Die Kommunistische Partei Israels ist die einzige Partei in Israel mit Mitgliedern aus beiden Völkern. Kommunisten begründen ihren Standpunkt mit einer marxistischen Klassenanalyse. Inwieweit können wir den Konflikt zwischen Israel und Palästina als einen Klassenkonflikt verstehen?

Reem Hazzan: In Israel, wie auch anderswo in der Welt, gibt es in der Tat eine Bourgeoisie, eine Arbeiterklasse, eine Mittelschicht, ein Kleinbürgertum, eine Schicht relativ privilegierter Arbeiter und hart arbeitender Angestellter und sicherlich auch Schichten, die unter chronischer Arbeitslosigkeit leiden, sowie verschiedene Randgruppen. All das gibt es, aber angesichts der Rolle, die Kolonialismus und Rassismus von Anfang an bei der Gestaltung der Klassenstruktur gespielt haben, reichen die Konzepte der besitzenden Klasse (Verbindung von Klasse und Position in Bezug auf die Produktionsmittel) nicht aus, um die komplexe soziale Realität zu beschreiben, in der wir leben und auf die wir einzuwirken versuchen.

Mit anderen Worten, die Trennung zwischen Juden und Arabern, zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen und zwischen Bewohnern verschiedener Ortstypen ist von großer Bedeutung für die sozioökonomische Schichtung und den Aufbau von Klassen und sozialen Machtverhältnissen in Israel. Es ist unmöglich, die Klassen in Israel zu beschreiben und ihre Farbe zu ignorieren, so wie die Diskriminierung von Arabern nicht nur als nationale Angelegenheit betrachtet werden kann, die ihren sozialen Status nicht berührt, und so wie es falsch ist, die Mizrachim-Frage als rein kulturelle Angelegenheit zu betrachten.

Wie kann man den Klassenkampf verstecken und ihn für das allgemeine Auge unsichtbar machen? Indem man ihn mit nationalen Kämpfen überlagert, indem man Angst vor dem „Anderen“ hat und sich aktiv Feinde schafft – so wie in diesem Fall. Es ist kein Kampf zwischen Arabern und Juden, es ist ein Kampf zwischen den Palästinensern – und den arabischen Völkern der Region – und dem Zionismus – einer rassistischen kolonialistischen Bewegung, die ihr alleiniges Eigentum an diesem Land und weiteren Ländern erklärt. Ich bin mir nicht sicher, ob wir dies als einen Konflikt zwischen Israel und Palästina bezeichnen können, da es keinen souveränen palästinensischen Staat gibt. Israel führt Krieg gegen das palästinensische Volk. Wir haben die zionistische Bewegung immer als eine rassistische Bewegung und als die handelnde Hand des Imperialismus in der Region definiert – und damit nicht nur als Unterdrücker der lokalen Gemeinschaften, sondern auch als Wohltäter der internationalen Konzerne und Inte­ressen.

Der Klassenkampf in Israel ist sehr gut versteckt. Wir arbeiten daran, ihn aufzudecken, indem wir die gemeinsamen Inte­ressen der Arbeiter beider Völker angesichts der neoliberalen Politik, der Privatisierung, der Lebenshaltungskosten und des Angriffs der Regierung auf die Rechte der Arbeiter hervorheben. Es ist nicht leicht, da die rassistische Politik und die rassistischen Praktiken in Israel per Gesetz die Juden gegenüber den palästinensischen Bürgern in fast allen Bereichen bevorzugen – im Bildungswesen, im Verkehrswesen, in den Industriegebieten, bei der Finanzierung der lokalen Behörden und beim Ausbau der Infrastruktur.

Um den Kommunismus, eine sozialistische Gesellschaft, zu fördern, müssen wir als strategisches Ziel die Ausbeutung und Unterdrückung aufheben. Um Solidarität aufzubauen und den verschiedenen Gruppen zu ermöglichen, den gemeinsamen Kampf zu sehen, müssen wir den besonderen Kämpfen jeder Gruppe Raum und Legitimität geben – und die verschiedenen Gruppen in diesem Sinne stärken. Die Unterdrückung der Wahrnehmung rassistischer (arabisch-jüdischer) oder diskriminierender Aspekte zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen ist Unterdrückung an sich und Ignoranz gegenüber den Machtverhältnissen in dieser Gesellschaft. In dieser Welt müssen wir die Definitionen von Klassen und Machtverhältnissen erweitern, um die Ziele unseres Kampfes besser definieren und kennzeichnen zu können. Deshalb sagen wir in der Kommunistischen Partei Israels, dass die arabisch-jüdische Partnerschaft innerhalb der israelischen Gesellschaft ein geeignetes Mittel ist, um diese Strukturen der Unterdrückung und Ausbeutung zu zerschlagen und aufzuheben, und das Mittel, um eine Gesellschaft aufzubauen, die von rassischer Vorherrschaft, Kolonialismus und Arbeiterausbeutung befreit ist.

Itamar Ben-Gvir
Itamar Ben-Gvir ist der Vorsitzende der Partei Otzma Jehudit, deren Ideologie auf dem Kahanismus fußt – einer gewalttätigen rassistischen Bewegung, die die Vertreibung der Palästinenser aus Israel, dem Gazastreifen und der Westbank fordert. Seit 2022 fungiert er in Netanjahus Kabinett als Minister für nationale Sicherheit. Als Siedler im besetzten Westjordanland wurde er bisher acht Mal verurteilt wegen Anstiftung zum Rassismus sowie Unterstützung und Propaganda für terroristische Organisationen.

Mizrachim
Als „Mizrachim“ („Gemeinschaften des Ostens“) werden in Israel jüdische Bürgerinnen und Bürger bezeichnet, die aus der muslimischen Welt zugewandert sind. Er wird fast ausschließlich auf Nachkommen jüdischer Gemeinschaften aus Nordafrika und Asien angewandt. Sie sind im überwiegend westlich geprägten Israel oft sozialer Ausgrenzung unterworfen.

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"Israel betreibt modernen Kolonialismus", UZ vom 20. September 2024



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