Kurt Bayertz
Interpretieren, um zu verändern
Karl Marx und seine Philosophie
Verlag C. H. Beck, München 2018
272 Seiten, 24,95 Euro
Weil der Kapitalismuskritiker Karl Marx die „philosophischen Voraussetzungen seiner Theorien“ verborgen habe, will der Philosoph Kurt Bayertz deren „unausgesprochenen Vorannahmen nachspüren“ (S. 9). Dass bei diesem kühnen „hermeneutischen Abenteuer“ die Marxsche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise hinweg-interpretiert wird, ist der Mangel des Buches „Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie“, das Bayertz unlängst vorgelegt hat. Um zu dieser höchst praxisrelevanten Erkenntnis zu gelangen, müssen wir uns zunächst mit der Mühseligkeit philosophischer Streitfragen abplagen.
Gleich zu Beginn des mühseligen Weges verdutzt uns Bayertz mit einem Zaubertrick. Die Marxsche Anmerkung nämlich, dass seine Methode zur Kritik der politischen Ökonomie der kapitalistischen Produktionsweise eine „materialistische Grundlage“ habe (MEW, Bd. 23, S. 25), verwandelt Bayertz in die Behauptung, Marx hänge einem „metaphysischen Glauben“ an (S. 14). Gelingen kann dieser Zaubertrick allerdings nur, indem ausgeblendet wird, weswegen die Marxsche Ökonomietheorie eine materialistische Grundlage hat. Bereits 1845/46 legen Marx und Engels dar, dass die „Voraussetzung aller menschlichen Existenz“ darin besteht, die menschlichen Bedürfnisse „Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere“ durch die „Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse“ zu befriedigen (MEW, Bd. 3, S. 28). Deswegen weiß Marx, dass die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen“ ist (MEW, Bd. 13, S. 8). Bayertz hingegen ignoriert hier die materielle Voraussetzung der menschlichen Existenz, so dass er den Marxschen Materialismus flugs in eine Glaubensfrage umzuwandeln vermag.
Mittels des ignoranten Zaubertricks ist die Voraussetzung geschaffen für die Akademisierung der Marxschen Theorie, deren Platz in der „Geschichte des Denkens“ zu bestimmen sei (S. 14) – nicht aber deren Funktion als Handlungsanleitung für die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise. Bei diesem akademischen Unterfangen sei, so Bayertz, die interessante Frage nicht, „ob Marx Materialist war, sondern welche Art von Materialismus er vertreten“ habe (S. 23 f.). Da aber das Marxsche Denken zu Beginn seiner theoretischen Laufbahn von der idealistischen „Weltanschauung“ geprägt gewesen sei, bedurfte es im Jahre 1845 einer „Konversion“ – also eines Wechsels der Glaubensrichtung –, um ihn zu einem materialistischen Philosophen werden zu lassen (S. 42), der an „den Primat des Seins gegenüber dem Denken“ glaubte (S. 61). Ausgestattet mit dieser materialistischen „Weltanschauung“ (S. 51), die wie jede andere auf einer axiomatischen Setzung, auf einer Vorannahme mithin basiert, sei Marx in seinem Pariser Exil zum Sozialisten/Kommunisten geworden (S. 67), der dem Proletariat die „Rolle des Emanzipators“ zuschrieb, weil den Proletariern „ein starkes materielles Interesse an einer Umwälzung der bestehenden Gesellschaft unterstellt werden konnte“ (S. 63). Fortan ging es Marx darum, „auf die programmatische Entwicklung der Organisationen der Arbeiterbewegung Einfluss zu nehmen“ (S. 67). Infolgedessen kritisierte er die „moralische Weltanschauung“ konkurrierender sozialistischer Theoretiker, die den Herrschenden Moralpredigten hielten, um das Elend der Proletarier zu beenden (S. 70). Dagegen positionierte Marx den „Historischen Materialismus“, der sich zugleich als Abkehr von der philosophischen Spekulation und als Hinwendung zur sozialen Realität begreift (S. 75). Diese Überwindung der bisherigen Philosophie, die durch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie vollendet wird, mag Bayertz nicht wahrhaben. Darum versucht er auf vielen Seiten zu zeigen, dass der „Historische Materialismus“ des Karl Marx lediglich „als eine philosophische Theorie angesprochen werden kann“ und dass Marx sich mit seiner ökonomischen Theorie nicht „von den philosophischen Gehalten des Historischen Materialismus emanzipiert hat“ (S. 77). Dabei jedoch verwickelt der Marxologe sich in einen eklatanten Selbstwiderspruch. Denn kurz zuvor konstatiert er, dass Marx seine Materialismusvariante „wahrscheinlich“ gar nicht „als eine kohärente, in sich geschlossene Theorie“, sondern als „Forschungsprogramm“ verstanden habe (S. 76). Abgesehen von diesem Selbstwiderspruch strapaziert Bayertz seine Leser mit stakkatohaften Auslassungen über die „theoriestrategische Bedeutung der Arbeit“ (S. 90), den „Aristoteliker Marx“ (S. 92), das „Explanandum der Marxschen Theorie“ (S. 99), die Marxsche „Definitionsphobie“ (S. 253, Fußnote 13) und so weiter. Dass Bayertz mit Ankündigungen nicht geizt, in denen er mitteilt, worauf er „weiter unten“ (S. 110) ausführlicher werde eingehen müssen, erleichtert die Lektüre nicht. Ins Auge springt bei dieser Parforcejagd durch die Philosophiegeschichte, dass unser Autor die Wandlung des Karl Marx vom spekulierenden Philosophen zum analysierenden Ökonomiekritiker negiert, indem er fortwährend (etwa auf Seite 98) Gedanken aus Werken aufnimmt, die aus dessen früher philosophischer Phase stammen. So gelingt ihm das hermeneutische Kunststück, den Materialismus à la Marx als eine „relationale Sozialontologie“ zu lesen (S. 113 ff.).
Indem Bayertz Marx zurück in einen „reinen“ Philosophen verwandelt, schafft er die Vorbedingung dafür, sich nicht systematisch mit dessen Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise befassen zu müssen. Stattdessen beschäftigt er sich in seinen Kapiteln III und IV mit der „Basis-Überbau-Metapher“ (S. 82 ff.), obgleich Marx schreibt, er habe sie „hingeworfen“, und zwar in einer allgemeinen Einleitung zu seiner Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“. Nun aber „unterdrücke“ er diese Einleitung, weil ihm „bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint“. (MEW, Bd. 13, S. 7) Nicht stören lässt sich durch derlei Darlegungen Bayertz, der Marx attackiert, weil er mittels der „architektonischen Leitmetaphorik“ eine dem „unterkomplexen Denken über gesellschaftliche Zusammenhänge förderliche Heuristik etabliert“ habe (S. 148). Als Marx-Kritiker agiert Bayertz auch, indem er verkündet, das Marxsche „Projekt eines wissenschaftlichen Sozialismus als der Verbindung von Theorie und sozialer Bewegung“ müsse als gescheitert angesehen werden. Denn das Proletariat habe „die Marxschen Erwartungen zu keinem Zeitpunkt erfüllt, und eine ‚wirkliche Bewegung‘, mit der sich seine Theorie verbinden könnte, existiert heute nicht mehr“. (S. 69) Dass diese Verkündigung widerlegt wird durch die Existenz von kommunistischen Parteien in Griechenland, Portugal, Venezuela, Deutschland und anderswo, welche die revolutionäre Arbeiterbewegung revitalisieren wollen, um die kapitalistische Produktionsweise aufzuheben, ignoriert der Professor für Praktische Philosophie offenbar. Zudem befasst er sich bloß methodologisch mit der „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise“ (S. 222). Dass diese Aufhebung notwendig ist, um eine Produktionsweise einrichten zu können, deren Zweck nicht die zerstörerische Plusmacherei der Kapitalisten, sondern die planmäßige Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung ist, scheint ihn nicht zu interessieren. Denn Bayertz interpretiert die Marxsche Theorie dergestalt, dass deren Kapitalismuskritik weginterpretiert wird; verändern will er, im Gegensatz zu Marx, nämlich nicht (S. 231).
Die Erkenntnisse der Marxschen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise aber gilt es, in die hiesigen Produktionsstätten zu bringen, um dergestalt die politökonomische Alphabetisierung der Lohnabhängigen zu befördern, damit sie dem Kapitalismus den Garaus machen können.