Die „Konzertierte Aktion“ des Wirtschaftsministers Schiller 1967

Integration oder Gegenmacht?

Die „Wende hin zum deutschen Großmachtanspruch“ wird einiges kosten – dafür bezahlen will das Monopolkapital aber nicht. Deshalb „ist es für die herrschende Klasse und ihre Politik entscheidend, möglichst auch die Organisationen der Arbeiterbewegung, vor allem die Gewerkschaften, in ihren Kurs einzubinden. Leider gelingt ihnen das bislang recht gut“ – so Ende Mai Patrik Köbele, der Vorsitzende der DKP, auf dem 24. Parteitag.

Wünschenswert wäre, er hätte dabei weniger Recht. Am 1. Juni erklärte Olaf Scholz in seiner Rede während der Haushaltsdebatte des Bundestags, dass er eine „Konzertierte Aktion“ gegen Preissteigerungen plane. Das Großkapital in Person des „Arbeitgeberpräsidenten“ Rainer Dulger reagierte zustimmend: „Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften haben in den bisherigen Krisen immer konstruktiv an Lösungen mitgearbeitet. Wir werden es auch dieses Mal tun.“ Auch die gerade neu gewählte Vorsitzende des DGB, Yasmin Fahimi, erklärte die Sozialpartnerschaft zur „tragende(n) Kraft unserer Marktwirtschaft“.

Diese Einigkeit verheißt für die anstehenden Abwehrkämpfe gegen den Abbau unserer sozialen und demokratischen Rechte nichts Gutes. Es lohnt sich ein Blick auf das historische Vorbild: die „Konzertierte Aktion“ von 1967.

Repression und Integration

Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Deutschland stand Ende der 1960er Jahre vor mehreren Herausforderungen. Die DDR hatte mit der Schließung der Grenze und ihrer konsequenten Friedenspolitik die Konzeption des „Zurückrollens“ des Sozialismus politisch geschlagen. Durch die antiimperialistische Friedenspolitik des sozialistischen Lagers wurden die überall entstehenden Nationalstaaten zu Bündnispartnern der DDR, so dass die Hallstein-Doktrin, der Versuch der internationalen Isolierung der DDR, immer weniger umsetzbar war.

Hinzu kam das beginnende Aufbegehren der sich entwickelnden demokratischen Bewegung, die in der Arbeiterjugend im Kampf gegen die reaktionären Ausbildungsgesetze, an den Universitäten gegen den „Muff von tausend Jahren“ und in den Betrieben begann. Vor allem in der Bewegung gegen die Notstandsgesetze wurden betriebliche Aktionen ausprobiert.

Gleichzeitig standen ökonomische Veränderungen an: Mit der Erweiterung der wissenschaftlich-technischen Revolution wurde die Arbeitskraft tendenziell teurer und es wurde notwendig, den Arbeitern mehr Eigenverantwortung zu geben. Als Ausbildungsort entstand die Massenuniversität.

Klar – und unstrittig – war für die Herrschenden, dass zu einer Neuausrichtung der Politik des deutschen Imperialismus Ruhe an der Heimatfront erforderlich war.

Mit diesen Herausforderungen richtig umzugehen war die Hauptaufgabe für die sich auf die Positionen des staatsmonopolistischen Kapitalismus stellende SPD und ihre wechselnden Regierungspartner. Das Verhältnis von Integration und Repression richtig zu bestimmen war der wesentliche Inhalt der damaligen Diskussionen.

Erste Nachkriegskrise

Ende 1965 begann in der Bundesrepublik eine Wirtschaftskrise. Sie wurde durch massive staatsmonopolistische Regulierung abgefedert. Milliardenhilfen standen den Konzernen zur Verfügung. Die Hilfsgelder wurden allerdings nicht zur Rettung von Arbeitsplätzen genutzt, sondern – wie üblich – zur Rationalisierung. Die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich in der Folge auf 323.000 Menschen im Jahresdurchschnitt. Das verschärfte die Krise. Die große Koalition aus SPD und CDU hatte alles „in ihrer Macht Stehende“ getan.

In dieser Krise standen das Monopolkapital und sein politisches Personal vor der Aufgabe, Tendenzen der Bewusstwerdung des Klassenwiderspruchs aufzufangen und eine Herrschaftsstrategie zu entwickeln, die Repression, Abschreckung und Integrationsmechanismen verband. Ein Instrument dafür war die 1964 gegründete NPD, welche die versprengten Kleingruppen des deutschen Faschismus wieder zentral führte. Darüber hinaus gab es das Anfang der 1960er Jahre von Ludwig Erhard (CDU) entworfene Programm der „Formierten Gesellschaft“. Ergänzt wurde es 1967 durch die von Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) erarbeitete „Konzertierte Aktion“. Zusammen mit den Notstandsgesetzen waren dies die Eckpfeiler, um die herum die Regierungen Kiesinger und Brandt in Großer wie in sozialliberaler Koalition ihre Politik planten.

„Formierung“ und „Konzertierte Aktion“

„Der große Plan der CDU – die ‚Formierte Gesellschaft‘“ hieß die Textreihe, in der Reinhard Opitz in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ 1965 die Planungen der CDU enthüllte. Opitz war – im Rahmen der Strategie der „Volksopposition“ der illegalen KPD – Mitglied der DFU geworden und überdies Mitherausgeber der „Blätter“.

Kernpunkt seiner Analyse war die Enthüllung der politischen und ökonomischen Grundinteressen des deutschen Monopolkapitals. Die „Formierung“ erkannte er so als Unterordnung aller (Partikular-)Interessen innerhalb der Bevölkerung unter das (Gesamt-)Interesse der Monopole. Das sollte im Wesentlichen auf der ideologischen Ebene passieren.

Der Hauptvertreter der „Formierten Gesellschaft“ war Ludwig Erhard. Dieser hatte seine Karriere als anständiger Vertreter des deutschen Monopolkapitals im deutschen Faschismus erheblich beschleunigt. Laut Otto Köhler stellte er seine Konzeption für die deutsche Nachkriegswirtschaftsordnung noch vor der Befreiung den faschistischen Planern vor. Diese ermahnten ihn zu mehr sozialer Demagogie: Es solle nicht „freie“, sondern „soziale Marktwirtschaft“ heißen.

„Konzertierte Aktion“ – Karl Schiller

Karl Schiller war Wirtschaftsminister – zuerst in der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (CDU), dann in der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt (SPD). Schiller begann seine wissenschaftliche Karriere unter faschistischen Bedingungen als Mitglied der SA (ab 1933) und der NSDAP (ab 1. Mai 1937). Opitz untersuchte Schillers wissenschaftliche Arbeiten aus dieser Zeit und kam zu dem Schluss, der nunmehrige bundesdeutsche Wirtschaftsminister argumentiere darin auf Basis der faschistischen Volksgemeinschaftsideologie für eine Wirtschaftspolitik der inneren Befriedung durch verschärfte Ausbeutung der überfallenen und ausgebeuteten Völker.

Die spätere Konzeption musste natürlich „demokratisiert“ werden. Also wurde aus der Volksgemeinschaft die „soziale Marktwirtschaft“ und aus der äußeren Ausbeutung die „Entwicklungshilfe“. Schillers wirtschaftspolitische Ideen, die bürgerliche Wissenschaftler dem Keynesianismus zuordnen, ähneln den „wirtschaftsliberalen“ Ansätzen Erhards in vielerlei Hinsicht. „Eine an gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten orientierte Lohnpolitik ist für das Ziel eines ‚Aufschwungs nach Maß‘, wie wir ihn jetzt versuchen, notwendig“, umschrieb die Bundesregierung 1967 Schillers Wirtschaftspolitik
Opitz formulierte deren inneren Zusammenhang mit der „Formierten Gesellschaft“: Bei beiden handele es sich um im Einklang mit den Interessen des Monopolkapitals stehende Konzeptionen zur ideologischen und politischen Integration der Gewerkschaften – und überdies hielten beide auch repressive Instrumente gegen widerspenstige Funktionäre und Teile der Arbeiterklasse bereit. So ist es auch wenig verwunderlich, dass Schiller und Erzreaktionär Franz Josef Strauß (CSU) als Wirtschafts- und Finanzminister so gut zusammenarbeiten konnten.

Ideologisch rechtfertigen Wissenschaftler mit der keynesianischen Wirtschaftspolitik genauso wie mit der faschistischen Ideologie der Volksgemeinschaft die Herrschaft des Monopolkapitals. Die „Nationalökonomien“ – also die Staaten – werden in Konkurrenz gesetzt, innere Interessengegensätze ausgeblendet. Besonders Keynes’ „Wirtschaftskreislauf“-Theorie hat starke Ähnlichkeiten mit faschistischer Ideologie, in der sich „Arbeiter der Stirn und der Faust“ die Waage halten, die Arbeiter also auf das „schaffende Kapital“ angewiesen seien. Differenzen bestehen darin, dass unterschiedliche Interessen des Monopolkapitals „demokratisch“ ausgetragen werden können, im Faschismus hingegen die Unterordnung unter die Interessen der am meisten imperialistischen Teile des Monopolkapitals an der Tagesordnung ist.

Technokratische Berechnung

Der alte Marx gab den Gewerkschaften den Rat, Lohnforderungen an der Höhe des Gewinns auszurichten, damit klar werde, dass es in Lohnkämpfen um den jeweiligen Anteil der Arbeiter und Kapitalisten am von den Arbeitern erarbeiteten Reichtum ginge. Damit – so Marx – würde sich die Erkenntnis, dass ohne die Existenz der Kapitalisten eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen möglich sei, am ehesten verbreiten. Gewerkschaften wie die ehemals sehr kämpferisch orientierte IG Metall handelten noch sehr lange Zeit nach dieser Maxime.

In der volksgemeinschaftlichen Ideologie wie in der keynesianischen Wirtschaftstheorie werden Verteilungsfragen, also auch Lohnfragen, vom Eigentum an den Produktionsmitteln abgekoppelt. Deshalb legte Schiller seinen Lohnleitlinien eine staatliche Schätzung der Zunahme des Bruttosozialprodukts zugrunde. Damit wurde nicht der Gewinn der Kapitalisten, sondern das Volkseinkommen als Maß für Lohnzuwächse gesetzt. Das ermöglichte die technokratische Rechtfertigung, „dass wir alle in einem Boot sitzen“. Gleichzeitig blendete es die Unternehmergewinne, die Inflation und die Produktivität – also die Zunahme des Ausbeutungsgrades – aus. Auch dass der Staat als neutraler Vermittler jedem seinen „gerechten Anteil“ errechnete, war gewollt. Die Lohnforderungen waren damit ökonomisch eingegrenzt. Ganz im Sinne der Erhardschen „Formierung“ sollten vor allem die gewerkschaftlichen Kader integriert, also von der ökonomischen Notwendigkeit geringerer Lohnforderungen überzeugt werden. Bei einem erwarteten Wachstum des Bruttosozialprodukts von zum Beispiel 5 Prozent sollten auch die Lohnforderungen nicht mehr als 5 Prozent betragen.

Zu den Plänen Schillers gehörte ein „Tisch der wirtschaftlichen Vernunft“ – Gesprächsrunden von Regierung, Verwaltung, Bundesbank, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften.

Integration

Laut einem Forschungskollektiv der „Marburger Schule“ entstanden in der Zeit vor 1968 zwei wesentliche Strömungen innerhalb der Gewerkschaften. Ganz rechts standen die „Integrationisten“, welche die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in die bestehende Gesellschaft integrieren wollten. Demgegenüber gab es auf der linken Seite die Position der „Gegenmacht“, also jene, die erkannten, dass gegen die Macht von Kapital und Staat eine eigenständige Positionierung der Arbeiterbewegung erforderlich war und diese organisiert ihre Interessen durchsetzen müsse. An diese Position anknüpfend und auf ihrem linken Flügel standen die Vertreter der Orientierung am Klassenkampf und an einer revolutionären Zielsetzung, vor allem die Kommunisten.

Zwischen den beiden Strömungen entbrannten hitzige Debatten, die sehr häufig in Fragen der Lohn- und Gehaltsforderungen wie in der Frage ihrer Umsetzung ausgefochten wurden. Mit der Stärkung der demokratischen Bewegung und der Wiedererkämpfung der Halblegalität der Kommunisten und mit der Gründung der Zeitschrift „Marxistische Blätter“ 1963 nahm auch die Stärke der linken Kräfte in den Gewerkschaften zu.

Die Lohnleitlinien und deren technokratische Berechnung halfen allerdings den rechten Kräften, diese Diskussionen in den Dienststellen und Betrieben abzubrechen und die Gewerkschaftsarbeit zu entpolitisieren. Dafür gab man gern ein Stück Tarifautonomie auf.

Gegenkräfte

15102 Septemberstreiks - Integration oder Gegenmacht? - Geschichte der Arbeiterbewegung, Streiks - Theorie & Geschichte
Streikdemo 1969: Realistische Lohnforderung der Kollegen und des damaligen IG-Metall-Vorsitzenden Otto Brenner. Zu Recht fragen sie: „Wo bleibt unser Anteil an den RIESENPROFITEN der Unternehmer.“ (Foto: UZ-Archiv / Klaus Rose)

Die kämpfenden Schüler und Auszubildenden erkämpften sich im Mai 1968 die Organisation der arbeitenden und lernenden Jugend, die SDAJ. Im September 1968 erkämpften sich die Kommunisten in der Bundesrepublik die Legalität vollends zurück. Sie konstituierten sich neu als DKP und traten an für eine „Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft“, die den Weg zum Sozialismus öffnen sollte. Die junge DKP erkämpfte sich ihren Platz in den Klassenkämpfen – sie war die konsequenteste Partei der „Gegenmacht“, weil sie die Partei des Sozialismus war.

Die Arbeiterklasse reagierte auf die „Konzertierte Aktion“ von SPD und Monopolkapital mit einer Verschärfung des Klassenkampfs. Von den Septemberstreiks 1969 bis zum Einsetzen der Krise 1974 durchlebten die Herrschenden die Phase der höchsten Eigenaktivität der Arbeiterklasse. Der Plan der inneren Befriedung wurde von der westdeutschen Arbeiterklasse eindrucksvoll zurückgewiesen. Die Kommunisten wirkten in der Arbeiterbewegung dafür, sich nicht integrieren zu lassen, vor allem, indem sie anstelle der Integrationsangebote ernsthaft fortschrittliche – antimonopolistische – Alternativen boten.

Die SPD wärmte im Interesse des Monopolkapitals die Idee immer wieder auf: 1977 mit einer „Konzertierten Aktion“ im Gesundheitswesen – Ergebnis war dessen „Liberalisierung“. 1998 brachte die damalige – von SPD und Grünen gebildete – Bundesregierung unter Gerhard Schröder das „Bündnis für Arbeit“ auf den Weg, worauf die Armutsgesetzgebung der Hartz-Gesetze folgte. 2014 initiierte die SPD das „Bündnis Zukunft der Industrie“ mit dem Ziel, die Kosten der sogenannten Digitalisierung von der Arbeiterklasse bezahlen zu lassen. Jetzt soll diese nach den Vorstellungen von Regierung und Kapital zusätzlich für die maßlosen Aufrüstungspläne des deutschen Imperialismus bluten.

Die richtige Antwort haben die Arbeiter Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre geben können.

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"Integration oder Gegenmacht?", UZ vom 24. Juni 2022



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