Die EU besteht in ihrem Kern aus einem Binnenmarkt, in dem gegenwärtig in 27 Ländern knapp 450 Millionen Menschen leben. Garantiert werden darin die vier Grundfreiheiten:
- der freie Warenverkehr,
- der freie Personenverkehr,
- die Dienstleistungsfreiheit,
- der freie Kapitalverkehr.
Damit erweitern sich faktisch die jeweiligen wirtschaftlichen Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten um die der 26 anderen. Ohne Beachtung sonst international geltender Regelungen beziehungsweise Einschränkungen – wie etwa Zölle, nachtarifäre Handelshemmnisse oder Kapitalverkehrskontrollen – können die einzelnen Unternehmen darin weitgehend ungehindert tätig werden.
Die deutschen Unternehmen profitieren in besonderem Maße von diesem Binnenmarkt, da der deutsche Kapitalismus in einem besonders hohen Maße monopolisiert ist. Und Monopole sind zu ihrem Erhalt und ihrem Wachstum besonders auf den Waren- und Kapitalexport angewiesen – das wissen wir seit Hilferding und Lenin.
Monopole bedürfen zur Gewährleistung und Sicherung ihrer Reproduktion aber des Agierens des jeweiligen Staates. Wir sprechen daher vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“: Vor allem international entwickelt sich der staatsmonopolistische Kapitalismus mit dem schnellen Tempo der Internationalisierung des Wirtschaftslebens, der Expansion transnationaler Konzerne und Finanzinstitute, der verschärften Konkurrenz bei zugleich widerspruchsvollen Tendenzen in den ökonomischen und politischen Beziehungen der Staaten untereinander. Deren Basis sind die gemeinsamen Interessen des internationalen Monopolkapitals und führender Staaten am Funktionieren des kapitalistischen Gesamtsystems.
Besonderheiten der EU
Die Europäische Union wird heute als das fortgeschrittenste Regulationssystem unter kapitalistischen Staaten angesehen. Und in der Tat ist der von der EU erreichte Integrationsgrad bemerkenswert. Er ist nicht mit dem anderer ökonomischer Staatenbündnisse vergleichbar. Die EU gründet sich vielmehr auf ein umfangreiches Vertragssystem und auf feste Institutionen.
Die EU verfügt über einen eigenen Haushalt, sie hat einen Gerichtshof, einen Rechnungshof, eine Zentralbank und eine gemeinsame Währung, die inzwischen in 18 ihrer 27 Mitgliedsländer Zahlungsmittel ist. Es existiert zudem ein Europäisches Parlament, welches allerdings aufgrund fehlender eigener Rechte kein echtes Parlament ist. Durch umfangreiche Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene kommt der nationalen Gesetzgebung oft nur noch die Aufgabe zu, dort getroffene Entscheidungen umzusetzen. Im Zuge der Integration haben sich die Rechtsschutzsysteme der Mitgliedsländer verändert. Das Prinzip der unmittelbaren Wirkung des EU-Rechts verpflichtet die nationalen Gerichte, europäische Rechtsnormen anzuwenden.
Die Bedeutung der EU für die deutschen Monopole ist daher kaum zu überschätzen.
Deutsche Vorherrschaft
Von besonderer Bedeutung sind die wirtschaftlichen Verflechtungen der deutschen Wirtschaft mit den vier Visegrád-Ländern Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn. Noch größer ist die Abhängigkeit dieser Länder von der deutschen Wirtschaft. Deutschland war etwa 2021 Lieferland Nummer 1 für Ungarn. Die Bundesrepublik hält allein einen Anteil von rund 24 Prozent an den ungarischen Importen. Von vergleichbarer Bedeutung sind Polen, die Slowakei und Tschechien. Für die deutsche Automobilindustrie sind die Produktionsstandorte in der Slowakei und in Ungarn von zentraler Bedeutung. Ohne sie wäre sie nicht weltweit konkurrenzfähig.e
Ausschlaggebend für die hohe Investitionsbereitschaft dort sind niedrige Löhne, schwache Sozialleistungen, kampfunfähige Gewerkschaften, aber auch niedrige Umweltstandards.
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) konnte man kürzlich lesen: „Das Gefühl, alles hängt von China ab, entspricht nicht der gesamtwirtschaftlichen Realität (…). 2,7 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts hängen von der chinesischen Endnachfrage ab. In die vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn exportieren wir zusammen mehr als nach China.“
Die östlichen EU-Staaten sind aber auch wichtige Herkunftsländer für die Arbeitsmigration. Es findet ein massiver Brain-Drain von dort statt – vor allem bei medizinischem Personal. Garantiert wird er durch den freien Personenverkehr, eine der vier Grundfreiheiten der Union.
Widersprüche
Die Europäische Union stellt zwar eine entwickelte Form der Kooperation von Staaten dar. Sie ist aber zugleich Austragungsort des Kampfes unter ihnen. So ist die Geschichte der EU immer auch eine des Ringens zwischen Deutschland und Frankreich um den entscheidenden Einfluss in ihr, wobei sich Phasen engen Zusammenwirkens mit solchen offener Konkurrenz ablösen.
Seit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und der Rückgewinnung des Handlungsspielraums des deutschen Monopolkapitals im europäischen Osten ist jedoch der Kampf um die Hegemonie in der EU zugunsten Deutschlands entschieden.
In Krisenzeiten schwächt sich regelmäßig die innereuropäische Kooperation ab und es verstärkt sich die Konkurrenz. Vertraglich festgelegte Aushandlungsverfahren werden dann auch mal ignoriert.
So entschied man in der Euro-Krise über Maßnahmen zur Stabilisierung angeschlagener Defizitstaaten nicht in dem eigentlich zuständigen Ministerrat, sondern in der lediglich informell tagenden Eurogruppe, in der nur die Euroländer vertreten sind. Neue Institutionen wie die EFSF (die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und der ESM (der Europäische Stabilitätsmechanismus) wurden außerhalb der Union eingerichtet. Dominiert werden sie von den kerneuropäischen Ländern und hier in erster Linie von Deutschland.
Noch gravierender sind die von der Finanz- und Staatsschuldenkrise ausgelösten Machtverschiebungen zwischen europäischem Kern und Peripherie. Dadurch wird die EU immer weniger ihrem selbstgestellten Anspruch gerecht, eine auf Zusammenarbeit und Aushandlung angelegte Institution zu sein.
Stattdessen hat sich eine Hegemonialordnung mit Deutschland an der Spitze herausgebildet. Die Eurokrise und der Streit zwischen ost- und kerneuropäischen Ländern in der Flüchtlingskrise haben im Ergebnis zu einer Verbitterung zwischen den Völkern geführt, die sie mehr und mehr entfremdet. In Griechenland, Italien und weiteren Ländern des Südens werden immer häufiger Parallelen zwischen den unguten historischen Erfahrungen mit Deutschland und der aktuellen Entwicklung gezogen.
Hegemoniesicherung
Die EU-Staaten haben bei Abstimmungen im Rat beziehungsweise in den Ministerräten unterschiedliches Gewicht. Entscheidend ist dabei ihre Bevölkerungsgröße. In dem Vertrag von Lissabon vom 1. Dezember 2009 wurde dieses neue Abstimmungsverfahren der gewichteten Stimmen verankert. Danach gilt das Prinzip der doppelten Mehrheit: Angenommen ist ein Text, wenn hinter ihm die Mehrheit der Staaten (mindestens 15 der 27) und eine Bevölkerungsmehrheit von 65 Prozent der EU steht. Die so zustande gekommene Mehrheit gilt als qualifizierte Mehrheit.
Stimmen die Großen, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, überein, so erreichen sie beim Kriterium der Bevölkerungsgröße bereits 57,67 Prozent. Da ist es nicht mehr weit bis zum erforderlichen Quorum von 65 Prozent. Aufgrund der hohen Anteile der großen Länder – und hier vor allem Deutschlands – kommen nur selten Mehrheitsbündnisse gegen sie zustande.
Die Berücksichtigung der Bevölkerungsgrößen als ein entscheidendes Kriterium stellte die Union auf eine völlig neue Grundlage. Die Bedeutung der großen Staaten in ihr wuchs ganz erheblich. Vor allem aber profitierte Deutschland von ihr.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich verschob sich dadurch zugunsten der Bundesrepublik. Bis zum Vertrag von Lissabon hatten sie mit jeweils 29 Stimmen gleich viel Einfluss im Rat. Auf dem EU-Gipfel in Nizza im Jahr 2000 konnte Frankreich noch die Parität wahren. Staatspräsident Chirac soll damals gesagt haben, dass Frankreich nicht drei Mal Krieg mit Deutschland geführt habe, um nun die Parität aufzugeben.
Alle deutschen Bundesregierungen haben seit dem Anschluss der DDR 1990 Druck gemacht, um dem damit deutlich größer gewordenen Land mehr Einfluss in der EU zu verschaffen. Als dies auf mehreren EU-Gipfeln nicht gelang, versuchte man es Anfang der 2000er Jahre mit der Einsetzung eines Konvents, der eine „Verfassung für Europa“ ausarbeitete. Trotz des Scheiterns des Verfassungsentwurfs bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden 2005 wurde das neue Abstimmungsverfahren in den Vertrag von Lissabon aufgenommen. Deutschland war am Ziel!
Gegenstrategien
Eine „demokratische und soziale EU“, wie sie von linken Politikern und Gewerkschaftern in Deutschland und anderen kerneuropäischen Ländern gefordert wird, ist zwar eine schöne Idee, doch leider, „die Verhältnisse, sie sind nicht so“, um mit Bertolt Brecht zu sprechen. Angesichts der vorhandenen Machtverhältnisse in den Mitgliedstaaten sowie in der EU müssen sich die Befürworter einer progressiv gewendeten EU vielmehr nach der Realisierbarkeit ihres Wunsches befragen lassen.
Mehr noch: Die Parole von einer „demokratischen und sozialen EU“ ist als eine nicht realisierbare Utopie nur geeignet, Illusionen über die Reformierbarkeit der Union zu verbreiten. Objektiv führt sie daher zu einer weiteren Schwächung der demokratischen Rechte auf nationaler Ebene und spielt den neoliberalen Kräften in die Hände.
Die EU wird gegenwärtig weniger von links als von rechts infrage gestellt Die Kritik der Kräfte von Rechtsaußen an der EU und am Euro ist oft sehr laut, und es gelingt ihnen, damit bei Wahlen zu punkten. Anders sieht es aber aus, wenn diese Parteien an der Regierung sind. Dann wird oft aus der lauten sehr schnell eine kleinlaute Kritik.
Doch so wenig die rechten und rechtsextremen Kräfte wirklich bereit sind, die Mitgliedschaft ihres jeweiligen Landes in der Eurozone oder gar in der EU infrage zu stellen, so ist es doch eine Tatsache, dass ihre Erfolge weitere Integrationsschritte erschweren beziehungsweise unmöglich machen, etwa in der angestrebten Entwicklung einer EU-Migrationspolitik oder bei der Umwandlung des ESM in einen Europäischen Währungsfonds.
Je lauter die Kräfte von Rechtsaußen mit chauvinistischen Tönen gegen EU und den Euro Stimmung machen, umso mehr flüchten sich die in der Europäischen Linken (EL) zusammengeschlossenen Parteien in eine Pro-EU-Position. Ihr traditioneller Internationalismus ist längst zu einem Europäismus mutiert. Auf diese Weise werden sie zu Verbündeten von Sozialdemokraten und Grünen. Die von ihnen erhobenen Forderungen nach einer „demokratischen, sozialen EU“ liegen aber jenseits jeder Realisierungsmöglichkeit. Sie werden ihnen daher zu Recht nicht abgenommen. Und so zählt am Ende nur ihr „Ja zu Europa“.
Für die antikapitalistischen Kräfte in den Ländern der EU geht es auf absehbare Zeit nirgendwo um die Durchsetzung grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen und schon gar nicht um den Kampf für einen Sozialismus. In der heutigen Situation kommt es zunächst darauf an, für den Erhalt der nationalstaatlich verankerten Demokratien einzutreten, auf deren Boden solche Auseinandersetzungen eines Tages überhaupt erst wieder ausgefochten werden können.
Die Demokratien sind heute vor allem durch die EU gefährdet. Der Kampf gegen die EU ist daher, verbunden mit dem weltweiten Kampf gegen den Imperialismus, der Antikapitalismus der heutigen Zeit. Die linke britische Tageszeitung „Morning Star“ beschrieb am Vortag der Abstimmung über den Brexit sehr genau, worum es geht: „Eine Stimme für Verlassen bringt nicht heute den Sozialismus. Aber sie wäre ein Schritt hin zur Wiederherstellung von demokratischer Kontrolle über unsere Wirtschaft und sie würde ein Hindernis für Fortschritt beseitigen.“
Wir dokumentieren hier Auszüge aus dem Referat von Andreas Wehr, das er auf dem Kommunismus-Kongress 2023 hielt.