Der Zeitroman „Unterdeutschland“ von Olaf Arndt

Innere Unsicherheit

Während sich „Die Linke“ fein macht für eine Regierungsbeteiligung im Bund, zeichnet sich eine gesellschaftliche Entwicklung ab, die nur zwei mögliche Auswege offen zu lassen scheint: Entweder sind es wieder einmal „die Roten“, die den Karren aus dem Dreck von Politikversagen und Wirtschaftskrise bugsieren. Oder wir steuern auf eine „autoritäre Demokratie“ schwarzbrauner und olivgrüner Färbung zu, wie sie von Olaf Arndt in seinem neuen Roman „Unterdeutschland“ beschrieben wird.

Arndts Roman spielt über weite Strecken im Jahre 2022. Dem Text liegt die Fiktion eines Manuskripts zugrunde, das im Jahre 2024 aufgefunden wurde. Ein Zukunftsroman also? Oder ein Thriller? Denn von einem Anschlag im Luftraum über Berlin ist die Rede, von Leichen, Hackern, V-Leuten und einem Kriminalkommissar, der auf einen Dreifachmord angesetzt wird und bei seinen Recherchen in die tiefe Schauerwelt unter der Hauptstadt Berlin gerät.

Im Unterdeutschland-Hades ist Kommissar Falck – so der Name des Kriminalisten – mit Erscheinungen konfrontiert, über die er in seiner Kreuzberger Kneipe nach Feierabend mit niemandem reden kann. Er stößt auf das Unverständnis derer, die in ihrer Alltagsbefangenheit nicht zu erkennen in der Lage sind, wie die Welt um sie herum sich verändert, wie sie selber und ihr Lebensstil abgekoppelt sind von den tatsächlichen Herrschaftsverhältnissen. Letztere sind autoritär, aber die Menschen wähnen sich in der „Normalität“ einer Demokratie.

Dieser doppelbödige politische Zustand erscheint wie ein Gleichnis für die aktuelle Situation. Im Zeichen der Corona-Pandemie fühlen die Menschen sich bedroht und in Panik versetzt. Sie halten Abstand voneinander. Sie tragen Masken. Sie werden sich fremd. Demonstrationen sind verboten, Netzeintragungen werden gelöscht. Fernsehen und Presse sind weitgehend auf Linie.

Auch in „Unterdeutschland“ ist von gefährlichen Viren als Auslöser eines tödlichen Prozesses die Rede. Infolge eines Anschlags im Luftraum über Berlin hat sich oberhalb des ehemaligen Flugfeldes Tempelhof eine giftige Wolke gebildet. Die Medien geben der schwebenden Bedrohung den Namen „Azova“.
„Azova“ bedroht die Sicherheit der Hauptstadt und ihrer Bewohner. Verschiedene staatsnahe Institute unterstreichen die beunruhigende Gefahr. Aus Expertensicht stammen die gefährlichen Viren angeblich aus einem russischen Labor. Wer – bitteschön – erkennt hier keine Parallelen zur aktuellen Covid.19-Situation und den Akteuren heute?

Der Roman beschreibt, wie der permanente Ausnahmezustand auf der dunklen Seite der Macht einer Kontrollorganisation, die übermäßig angewachsenen ist und wuchert, zur diktatorischen Herrschaft verhilft. „Unterdeutschland“ thematisiert auf beängstigende Weise den paranoiden Irrsinn der Wirklichkeit, die inhuman-verbrecherischen Aspekte der ordnungs-, polizei- und militärpolitischen Realität in der Gegenwart. Die Erzählung behandelt zum Beispiel den Einsatz von Überwachungskameras, unbewaffneten Kontrolldrohnen und bewaffneten Morddrohnen für gezielte Hinrichtungen. Dabei sprechen Algorithmen und Künstliche Intelligenz das Todesurteil, wobei Henker und Hingerichtete sich physisch fremd bleiben.

Reale Projekte werden angesprochen: Werkzeuge, mit denen Staaten und Konzerne auf unseren Alltag in beängstigender Weise Einfluss nehmen. Der Einsatz von gezielten Elektroschocks, akustischen Täuschungen, Betäubungsgas und Klebeschau sowie die Verwendung von „direkter Energie-Munition“ erweitert das Arsenal der Polizei um extrem schmerzhafte Technologien und schließt die Lücke zwischen Schlagstock und tödlicher Waffe.

Statt Sicherheit zu gewährleisten, wird innere Unsicherheit auf Dauer gestellt: einerseits in Gestalt des Kontrollwahns der Unternehmer gegenüber ihrem Personal, der Datengier der Anbieter gegenüber den Konsumenten, der Furcht der Herrschenden vor den Beherrschten. Andererseits ist Unsicherheit der stete Grund für die Angstzustände der Bevölkerung in der „Neuen Normalität“. Mittels der „Schock-Strategie“ (Naomi Klein) werden die unterdrückerischen Kontrolldimensionen des datenbasierten „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) etabliert.

Die Szenarien der Inneren Unsicherheit und die Maßnahmen, mit welch höllischen Mitteln jedem Widerstand der Bevölkerung begegnet wird, hat sich Olaf Arndt, der Autor des Romans, nicht am Schreibtisch ausgedacht. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beobachtet er die Entwicklung sämtlicher Technologien politischer Kontrolle. Als kritischer Begleiter und im Austausch mit jenen Zeitgenossen, die das Geschehen der Militarisierung des Zivilen mit berechtigter Vorsicht und Sorge verfolgen, unterfüttert er seinen Roman mit Tatsachen.

Mit „Unterdeutschland“ liegt ein literarisches Werk vor, das die Schrecken der Gegenwart und die Phantasmagorien der nahenden Zukunft eindringlicher schildert, als ein nüchternes Sachbuch es vermocht hätte. Die „autoritäre Demokratie“ ist schon heute in greifbarer Nähe und real. Für viele erlebbar ist schon jetzt die damit einhergehende Entkoppelung der Lebenswelten: Freunde werden zu Gegnern, kritische Linke zu affirmativen Corona-Gläubigen, Gewerkschafter zu Agenten des pharmazeutisch-industriellen Komplexes, Friedensfreunde begegnen sich nur noch am Bildschirm, Geistliche enthalten sich der Seelsorge, von Schülern bedroht fühlen sich Lehrer. Ein jeder und jede verkörpert des Anderen Gefährdung, ängstigt ihn mit dem Tod. Wir werden uns fremd.

Die Dramatik dieses Prozesses aufzuzeigen ist das Verdienst von „Unterdeutschland“ als eines gesellschaftlichen Entwicklungsromans. Allen, welche auf die gegenwärtigen Verhältnisse mit geschärftem Blick, nicht mit beschlagener Brille schauen, sei die Lektüre dieses aufrüttelnden Non-Fiction-Werkes in literarischer Gestalt heiß empfohlen. „Unterdeutschland“ ist lesenswert, auch als Selbsttest in Zeiten von Corona. Das Buch wird ergänzt um ein üppiges Glossar zur weiteren Information und vertieften Selbstaufklärung im Internet unter: unterdeutschland.bbm.de

Olaf Arndt
Unterdeutschland
Mox & Maritz Bremen, 2020
520 Seiten, geb., 19,80 Euro.

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"Innere Unsicherheit", UZ vom 9. April 2021



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