Zum gegenwärtigen Zustand der russischen Ökonomie

Inmitten einer historischen Neuorientierung

Das Bemühen, Russland schlechtzuschreiben, ist weit verbreitet. Der republikanische Kriegsfalke John McCain brachte es auf die Formel: „Russland ist eine Tankstelle, die sich als Land maskiert hat.“ Die antirussische Obsession in Washington, Brüssel und Berlin ist so stark, dass man das Land, das in den westlichen Medien nur aus seinem Präsidenten besteht, erklärtermaßen „ruinieren“ will. Russland hat allerdings die mittlerweile zwölf Sanktionsrunden, den Raub von 300 Milliarden US-Dollar Auslandsguthaben sowie den Rauswurf aus dem SWIFT-System ebenso überstanden wie den provozierten Proxy-Krieg in der Ukraine. Jedenfalls sucht man den in den USA mittlerweile zum Straßenbild gehörenden offenen Horror der Elendsviertel, der Zeltstädte, des allgemeinen Verfalls in den russischen Citys bislang vergeblich. Russland hat die Herausforderungen des als „Great Power Competition“ verharmlosten koordinierten Generalangriffs nicht nur überstanden – es hat auch resolute Schritte zur Erweiterung und Diversifizierung seiner Ökonomie ergreifen können. Bisher alles, ohne zu den Zwangsmaßnahmen einer Kriegswirtschaft greifen zu müssen.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Russischen Föderation wird 2023 bei umgerechnet 1,86 Billionen Dollar liegen. Das Land liegt damit im globalen Ranking auf Platz 11. Berücksichtigt man die reale Kaufkraft des Rubel (PPP), so liegt Russland auf Platz 6, knapp hinter Deutschland.

Bis September dieses Jahres generierte Moskau Staatseinnahmen von fast 20 Billionen Rubel. Dem standen im selben Zeitraum Ausgaben von knapp 21,5 Billionen Rubel entgegen. Das Budgetdefizit dürfte weitgehend durch innerrussische Kreditaufnahme bestritten werden. Die Verschuldungsquote Russlands lag 2022 bei 17,2 Prozent und damit weit unterhalb der neoliberal ruinierten westlichen Staaten. 1998, am Ende der Jelzin-Ära, lag sie noch bei rund 140 Prozent. Russland war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu bedienen. Die Inflation stieg auf 84 Prozent. Der Rubel verlor innerhalb eines Monats zwei Drittel seines Werts. Das Land war 1998 de-facto pleite.

Der Generalangriff

Die innere Struktur und die schwerpunktmäßige Ausprägung sozialökonomischer Verhältnisse ist, grob gesprochen, eine Funktion der Geographie, der Ressourcen, der Bedrohungslage sowie des inneren und äußeren klassenbasierten Kräfteverhältnisses. Der von Boris Jelzin inszenierte Putsch zur Auflösung der Sowjetunion ermöglichte ein Jahrzehnt der ungehinderten Ausplünderung der UdSSR-Nachfolgestaaten durch die zu Raubtieroligarchen mutierten Teile der ehemals kommunistischen Funktionselite sowie durch das westliche Finanzkapital und seine ökonomischen „Experten“. Die naiven Hoffnungen auf eine „Friedensdividende“ hatten sich naturgemäß ebenso wenig erfüllt wie der Glaube an die Vertragstreue der NATO. Stattdessen kam die „Schocktherapie“ und das Vorrücken der NATO bis zur russischen Grenze. 2008 erklärte Washington ganz offen, die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen, und kündigte sukzessive die wesentlichen strategischen Rüstungsbegrenzungsverträge. Das Erstschlagszenario der 1980er Jahre kehrte in neuer, verschärfter Form zurück. Die russische Führung musste auf die harte Tour lernen, dass der hybride Krieg Washingtons keine alleinige Frage der gesellschaftlichen Verfasstheit ist, sondern auch einem geostrategischen Kalkül entspringt. Ein souveränes Russland, sozialistisch oder nicht, stellt vor allem im Bündnis mit China eine existentielle Herausforderung für den globalen Dominanzanspruch der „einzigen Weltmacht“ dar. Diese gehört aus der Sicht der in Washington dominierenden Neokonservativen (Neocons) wenn nicht vernichtet, so doch zumindest auf ein unbedeutendes Niveau dezimiert.

Russland musste auf diese strategische Bedrohung reagieren, militärisch wie ökonomisch. Das erforderte eine entsprechende Ressourcenallokation sowie eine Neuausrichtung und Modernisierung der Streitkräfte. Dazu waren die kurzfristig verfügbaren Finanzquellen auszubauen und ihre Profitabilität zu steigern. 2014 organisierte Washington den „Maidan-Putsch“ und verhängte Sanktionen gegen Russland. Das Ziel hieß: Maidan auf dem Roten Platz, Regime Change und Aufspaltung Russlands. Auf Grund dieser Verschärfung musste Russland seine Wirtschaft schneller sanktionsfest machen und einen konsequenten Entdollarisierungsprozess einleiten. Trotz des Verlusts großer Devisenreserven kann diese Aufgabe zu einem großen Teil als bewältigt betrachtet werden.

Wladimir Putin konnte am 1. März 2018 auf wesentliche Neuentwicklungen strategischer und taktischer Waffensysteme hinweisen. Im Ukraine-Krieg waren die Fähigkeiten der russischen Rüstungsindustrie zu erkennen. Es zeigte sich, dass Russland militärisch mit dem Westen gleichauf ist, in einigen Bereichen sogar vorn liegt. Die Zuspitzung und die darauffolgende Niederlage des Westens in der Ukraine hat entscheidend zur geostrategischen Umorientierung der Länder des Globalen Südens, insbesondere der arabischen Welt, in Richtung BRICS beigetragen.

Sanktionssichere Ökonomie

Das entscheidende Standbein der russischen Ökonomie ist die Fossilenergie. Das Land verfügt über die weltweit größten Erdgasreserven, die zweitgrößten Kohlereserven und die sechstgrößten Erdölreserven. Vom 24. Februar 2022 bis Anfang November 2023 hat Russland umgerechnet 580 Milliarden Dollar durch Fossilenergie-Exporte generiert. Etwa ein Drittel kamen trotz Selbstboykott aus der EU. Die zurückgehenden europäischen Importe konnte Russland durch eine Steigerung der Exporte vor allem nach China und Indien mehr als kompensieren.

461002 Gas - Inmitten einer historischen Neuorientierung - BRICS, Russische Föderation - Theorie & Geschichte
Ein Mitarbeiter bei einer technischen Überprüfung der Anlagen eines Gasfelds in Irkutsk, Russland. (Foto: Xinhua)

Die Belt-and-Road-basierte Industrialisierung und infrastrukturelle Durchdringung Asiens und großer Teile des Globalen Südens erzeugt gewaltige Energiebedarfe, die in absehbarer Zeit kaum anders als durch einen hohen Anteil an Fossilenergie gedeckt werden können. Russland setzt auf diese Entwicklung und baut seine bestehende Energieinfrastruktur deutlich aus.

Daneben hat Russland eine führende Position bei der Förderung und Verarbeitung einer breiten Palette von Mineralien und Metallen: Vanadium, Molybdän, Kobalt, Nickel, Kupfer, Zink, Zinn, Uran, Magnesium, Aluminium, Eisenerz, Gips, um nur die wichtigsten zu nennen. Aber auch bei Edelmetallen wie Gold, Silber und Platin hält das Land Spitzenpositionen, ebenso wie bei der Förderung von Diamanten. Die vielfältigen Produkte des russischen Metallurgiekomplexes (Stahl- und Nichteisenprodukte) werden allerdings zu 90 Prozent für den heimischen Bedarf produziert.

Seit 2016 ist Russland zum größten Weizenexporteur aufgestiegen und hat auf einer kleineren Anbaufläche in etwa das landwirtschaftliche Produktionsvolumen der früheren Sowjetunion erreicht. Es gehört bei den 25 wichtigsten landwirtschaftlichen Produkten, zwar auf unterschiedlichen Positionen, aber zumindest zu den weltweit zwölf größten Produzenten.

Auch bei der zivilen Automobil- und Flugzeugproduktion haben die Sanktionen eine Restrukturierung notwendig gemacht. Teils in Eigenregie, teils in Kooperation mit vor allem chinesischen Unternehmen werden die von westlichen Produzenten verkauften Betriebe weitergeführt. Der russische Pkw-Markt ist in einer tiefgreifenden Umbruchphase: Chinesische Marken halten aktuell bei den Pkws schon einen Marktanteil von 49 Prozent. Auch die Flugzeugproduktion ist im Umbruch. So wird der Suchoi-Superjet 100, ein Nah- bis Mittelstreckenflieger, in verschiedenen Varianten produziert, ebenso wie die MC-21 von Irkut. Einen Durchbruch stellt die Iljuschin-Il-96-Familie dar, ein vierstrahliger Großraum-Langstreckenflieger aus komplett russischer Produktion mit einer Kapazität von 390 Passagieren und einer Reichweite bis zu 10.000 Kilometern. Auch hier gibt es Planungen zur Zusammenarbeit mit chinesischen Unternehmen.

Ein Flaggschiff der engen russisch-chinesischen Kooperation könnte die wohl 250 Milliarden Dollar teure und 7.000 Kilometer lange neue Moskau-Peking-Eisenbahn werden, die gegenwärtig in der Planung ist. Mit der Hochgeschwindigkeitsverbindung soll die Fahrzeit auf etwa zwei Tage reduziert werden können. Teile des Projekts wie die 762 km lange Moskau-Kasan-Strecke sollen bis 2024 fertiggestellt werden.

Die Fähigkeiten des russischen militärisch-industriellen Komplexes (MIK) haben im Ukraine-Krieg das Potential der NATO deutlich in den Schatten gestellt. In allen wesentlichen Waffentypen und -gattungen waren die russischen Kräfte zahlenmäßig und häufig qualitativ überlegen. Der russische MIK beschäftigt rund 3 Millionen Menschen. Dazu kommen etwa 1,5 Millionen Angehörige der Streitkräfte. Die russischen Militärausgaben insgesamt beanspruchen mehr als 20 Prozent des Staatsbudgets. Dies dürfte die größte Herausforderung für die russische Ökonomie und Gesellschaft darstellen.

Die Kommandohöhen in Staat und Ökonomie

Die Sanktionen des Westens haben neben den Schwerpunkten Rüstung und Fossilenergie auch eine Diversifizierungsoffensive der russischen Ökonomie gestartet. De-Coupling und De-Dollarisierung sind zur Realität geworden. Die Rückkehr zum Rubel, gigantische Investitionen im dreistelligen Milliardenbereich sind ebenso erforderlich wie eine starke, zur ökonomischen und gesellschaftlichen Steuerung fähige Staatsmacht. Auch die – konservative – politische Führung Russlands musste lernen, dass die Herrschaft der Oligarchen, der neoliberale Ausverkauf und die globalisierte Herrschaft des angloamerikanischen Finanzkapitals insbesondere für Russland keine Option ist. Russlands Souveränität und sein Status als souveräne Großmacht kann in der „Great Power Competition“ nur bewahrt werden, wenn egoistische Profit- und Sonderinteressen keine bestimmende Rolle spielen.

Das Erbe der Jelzin-Raubtierjahre lastet schwer auf der russischen Ökonomie und auf dem Bemühen um Souveränität. Der Vermögens-Gini-Koeffizient von 0,88 macht die krassen Reichtumsunterschiede deutlich. (Gini 1 = einem gehört alles, 0 = allen gehört gleich viel).

Die Putin-Führung hatte 2003 im Machtkampf mit den politisch ambitionierten Oligarchen gesiegt. Michail Chodorkowski, sozusagen die Führungsfigur der hemmungslosen Selbstbereicherung, war hinter Gittern verschwunden. Allerdings waren die zusammengeraubten Vermögen zum großen Teil erhalten geblieben. In Russland hatte sich eine alles andere als widerspruchsfreie, gemischte Ökonomie mit dominanten bis einflussreichen Staatsanteilen in den strategisch wichtigen Sektoren wie Banken, Energie, Schiffbau, Eisenbahnen, Luftfahrt und Rüstung herausgebildet. In der gegenwärtigen geopolitischen Situation eines historischen Umbruchs und beim aktuellen Stand der komplexen internationalen Klassenkämpfe geht es darum, den entscheidenden Einfluss der Regierung auf die Entwicklung des Landes zu sichern und gleichzeitig die Fähigkeit zu einer schnellen, massiven, strategisch notwendigen Ressourcenallokation zu ermöglichen. Die gigantischen Investitionen für eine umfassende Modernisierung, Umstrukturierung und Diversifizierung der russischen Ökonomie dürften, wie in der NÖP der 1920er Jahre oder den „vier Modernisierungen“ Deng Xiaopings, wohl nur durch die Einbeziehung großer Privatinvestitionen zu bewältigen sein.

Zentral ist es, wie Lenin sagte, die Kommandohöhen in Staat und Ökonomie zu behaupten und nicht das Business jeder Pommesbude zu organisieren. Das gilt auch für die konservative Partei Putins. Während es bei der KPCh erklärtermaßen um den Aufbau eines nationalen Sozialismusmodells geht, steht für die Partei Putins der Erhalt und die Verteidigung der russischen Souveränität im Vordergrund. Interessanterweise führen beide Zielstellungen zu ähnlichen Ergebnissen. Das gilt, wie sich im Prozess der Herausbildung einer vom angloamerikanischen Block unabhängigen multipolaren Staatengemeinschaft gezeigt hat, nicht nur für Russland und China. Die große Erkenntnis heißt: Die Entwicklung von ökonomischer Prosperität wie nationaler Unabhängigkeit setzt die Überwindung der neoliberalen Selbstruinierungs- und Verarmungspolitik, der finanzkapitalistischen Globalisierung sowie den Aufbau einer schlagkräftigen Militärmacht voraus. Und genau das versucht das angloamerikanische Finanzkapital mit seinem ganzen Herrschaftsinstrumentarium, seiner Kriegsmaschine, dem US-Dollar, seiner Bewusstseinsindustrie und seinen Regime-Change-Agenturen mit allen Mitteln zu verhindern. In diesem historischen Kampf befinden wir uns gegenwärtig.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Inmitten einer historischen Neuorientierung", UZ vom 17. November 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit