Warum die Bauern allen Grund haben, auf die Straße zu gehen

Inflation, Verdrängung, Höfesterben

Am 15. November letzten Jahres legte die Entscheidung der Karlsruher Verfassungsrichter das ganze Ausmaß des haushaltspolitischen Desasters der Ampelkoalition offen. Die Finanzjongleure Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) gingen in Klausur, frisches Geld musste in die Kassen. Nach vierwöchiger Hängepartie lag die Streichliste auf dem Tisch. Das Opfer der Wahl waren diesmal die Bauern.

Die Steuervergünstigung auf Agrardiesel (Wert: 440 Millionen Euro) sowie die Steuerbefreiung für landwirtschaftliche Fahrzeuge (Wert: 485 Millionen Euro) sollte gestrichen werden. Die Kürzungspläne sorgten für Massenproteste der Bauern, an denen sich vielerorts auch Angehörige anderer Berufe beteiligten. Weder durch Teilzugeständnisse noch durch öffentlich-rechtlich gestreute Unterwanderungsphantasien ließ sich der Protest den Wind aus den Segeln nehmen. Die auf der Straße unter Beweis gestellte Hartnäckigkeit, einmal gesteckte Ziele bis zum Ende zu verfolgen, war auch Kennzeichen früherer Bauernproteste: Sei es im Februar 1971, als 60.000 Landwirte in Bonn gegen die Folgen der europäischen Agrarpolitik protestierten, oder im Frühjahr 1981, als in 130 Städten Westdeutschlands über 200.000 Landwirte gegen neue EU-Preisverordnungen auf die Straße gingen. Unvergessen auch der 8. Dezember 1992, als sich in Bonn 50.000 Landwirte gegen die Handelsvereinbarung zwischen Europäischer Kommission und den USA (GATT)versammelten, und der 26. November 2019, als in Berlin 40.000 Bauern gegen die Agrarpolitik der Großen Koalition demonstrierten.

Landwirtschaftliche Krise

Die aktuellen Kennzahlen zur ökonomischen Situation der landwirtschaftlichen Betriebe zeigen das ganze Ausmaß der Krise. Der Anteil der landwirtschaftlich genutzten Fläche an der Gesamtfläche Deutschlands lag 2023 bei 16,6 Millionen Hektar, also über 50 Prozent. Den größten landwirtschaftlichen Flächenverbrauch verzeichnen Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Zwei Drittel der Fläche entfällt auf den Ackerbau, ein Drittel auf Vieh- und Weidewirtschaft. Bei Fleisch, Milch und Getreide ist Deutschland Selbstversorger, bei Obst und Gemüse werden 80 beziehungsweise 62 Prozent importiert. Längst sind es keine Bauern mehr, denen die größten zusammenhängenden Agrarflächen gehören, sondern Agrarholdings. Über 10 Prozent der Ländereien werden von Großkonzernen wie der Bauunternehmung Zech-Group, dem Versicherer Munich Re, dem Heizungsbauer Viessmann oder der Aldi-Gruppe verwaltet. Agrarflächen sind zum Spekulationsobjekt geworden, die agrarischen Großgrundbesitzer streichen auch die für die Fläche gewährten EU-Subventionen als Extraprofit ein.

Anhaltende Verdrängung

Der Verdrängungswettbewerb im Agrarbereich hält an: Während die landwirtschaftlich genutzte Gesamtfläche weitgehend konstant blieb, sank in den vergangenen zwölf Jahren die Zahl der Agrarbetriebe von 299.000 auf 254.300. Ein Abwärtstrend, der seit 1950 (Stand damals: 2 Millionen Betriebe) anhält und auch durch die Zerschlagung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und Volkseigenen Güter (VEG) der DDR Anfang der 1990er Jahre nicht gebrochen wurde.

Bei Betriebsaufgabe frei werdende Flächen teilen immer weniger Betriebe unter sich auf. Die Kennziffer der durchschnittlichen Betriebsgröße belegt das: War vor 60 Jahren ein Hof im Schnitt 7,5 Hektar groß, liegt der Wert aktuell bei 64,1 Hektar. Gerechnet auf die letzten zehn Jahre betrug die Schwundrate jährlich etwa 2 Prozent, betroffen sind fast durchweg Kleinbauern. Zählte man 2010 137.900 Höfe mit einer Fläche bis zu jeweils 20 Hektar, sank die Zahl im Jahr 2022 auf 117.270 Höfe dieser Größe. Umgekehrt vermehrten sich die Großbauernbetriebe (über 500 Hektar) von 3.600 auf 3.950. Auf die genutzte Fläche bezogen heißt das: 1,6 Prozent Großbetriebe verfügen über mehr als 25 Prozent der Nutzfläche. Der Schwellenwert, unterhalb dessen die Zahl der Betriebe abnimmt und oberhalb dessen die Zahl der Betriebe zunimmt, hat sich bei 100 Hektar eingepegelt. Betriebe dieser Größe nahmen von 5.200 im Jahr 2010 auf 38.000 in 2022 zu.

Inflation bei Pacht und Energie

Längst werden nicht mehr nur die „Kleinen“, sondern auch die „Mittelgroßen“ Opfer der Entwicklung. Zu den wesentlichen Treibern betrieblicher Insolvenzen zählt der rasante Anstieg der Pachtpreise. Im Bundesmittel sind etwa 60 Prozent der Agrarfläche eines Hofes gepachtet. Der Landwirt begibt sich durch die Pacht in weitere Abhängigkeit. Lag die Pacht je Hektar vor 20 Jahren noch bei durchschnittlich 230 Euro, kletterte der Pachtpreis inzwischen auf stolze 380 Euro. Der Erwerb von Nutzflächen ist angesichts der Bodenpreise keine Alternative zur Pacht. Die Bodenpreise haben sich allein zwischen 2010 und 2020 verdoppelt, im Jahr 2022 erreichten sie mit 31.911 Euro/Hektar einen Rekordwert. Bei den Betriebsmittelpreisen (Energie, Dünger, Futter, Bauten, Maschinen und Verbrauchsmaterialien) sieht es nicht anders aus: Der Preis von Phosphat-Stickstoff-Dünger stieg in drei Jahren von etwa 250 auf 938 US-Dollar pro Tonne, Harnstoff verteuerte sich um das 4,5 fache, Erdgas kostete 2022 mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr.

Geringer Stundenlohn

Ein Indikator für die Wirtschaftlichkeit eines landwirtschaftlichen Betriebs ist die Differenz zwischen Erzeugerpreis (Abgabepreis an den Handel) und Betriebskostenanteil. Steigen gleichzeitig die Betriebskosten und fallen die Erzeugerpreise, ist das wirtschaftliche Überleben des Betriebs nicht mehr zu gewährleisten. Das Statistische Bundesamt meldete für die Erzeugerpreise im November 2023 einen Rückgang zum Vorjahresmonat um 11 Prozent, im Oktober 2023 lag die Veränderungsrate zum Vorjahresmonat bei minus 14,5 Prozent.

Kleinbetriebe sind gezwungen, bei dieser Erzeugerpreisentwicklung auf Rücklagen zuzugreifen, um den laufenden Betrieb aufrechterhalten zu können. Diese Ressource ist indessen zumeist erschöpft, da einzelbetriebliche Kreditvolumina in aller Regel bereits ausgeschöpft sind (Finanzierung der Landmaschinen und technischen Anlagen). Die Einkommenssituation je Erwerbsperson lässt ebenfalls keinen Platz für Neufinanzierungen. Zur Schätzung des betrieblichen Einkommens wird in der Regel auf die Zahlen des Thünen-Instituts zurückgegriffen, das seit 1955 jährlich Schätzungen auf der Basis der Buchführungsabschlüsse von 8.000 landwirtschaftlichen Betrieben anstellt. Für 2022 wurde ein Durchschnittswert von „43.500 Euro pro Arbeitskraft und Jahr“ ermittelt. Finanzielle Sprünge sind damit nicht möglich: Der Betrag bezieht sich auf das Betriebseinkommen einschließlich Familienmitarbeit, enthält folglich Lohn und Gewinn, er ist „brutto“, Steuern und Sozialabgaben sind noch abzuschlagen, der Betrag berücksichtigt die Anzahl der täglichen Vollarbeitsstunden nicht. (Laut Statistischem Bundesamt betrugen die Jahresarbeitsstunden in Agrarbetrieben im Jahr 2020 1.675, der Bundesdurchschnitt für Erwerbstätige lag bei 1.324 Stunden).

Schließlich sagt der Wert „43.500“ zur Realität der Masse der Klein- und Nebenerwerbslandwirte wenig aus. In Deutschland arbeiten aktuell 937.900 Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 46 Prozent davon in Familienbetrieben. Mehr als die Hälfte aller Höfe, nämlich 130.000, sind Kleinbetriebe, die mit durchschnittlich einer Vollarbeitskraft im Familienverband im Mittel 36 Hektar bewirtschaften. Diese Betriebe erzielten im Jahr 2022 einen Bruttoertrag von 19.120 Euro vor Steuern. Neben den erwähnten Familienarbeitskräften arbeiten 228.900 Lohnarbeiter und 274.700 Saisonkräfte im Agrarbereich. Für sie liegen die Einkommen bei Vollzeitarbeit (48 Std./Woche) bei 18.500 Euro/jährlich.

Abhängigkeit und Preisdiktat

Der Verdrängungswettbewerb nötigt die Betriebe zur Spezialisierung, die Spezialisierung wiederum verstärkt die Abhängigkeit von den Handelsketten. So tritt der spezialisierte deutsche Milchbauer gleichzeitig in Konkurrenz mit Erzeugern auf internationaler Ebene, was ihn dem Preisdiktat der Molkereikartelle ausliefert. Das Kilo Milch brachte im Juli 2020 31 Cent ein, im Juli 2022 60 Cent, im Juli 2023 sackte der Preis wieder auf 40 Cent ab, inzwischen steigt er wieder leicht. Ein Milchpreis unter 48 Cent deckt für deutsche Landwirte die Produktionskosten nicht mehr, zudem sorgt die Preispolitik des auf Massenabsatz zielenden Handels dafür, dass erhöhte Erzeugerpreise immer, sinkende Erzeugerpreise aber nur im Ausnahmefall an den Endkunden weitergegeben werden. Nach dem Wegfall der EU-Milchquotenregelung Ende März 2015 (jedem EU-Milcherzeuger war nur die Produktion einer begrenzten Menge an Rohmilch gestattet) feiert der „freie Markt“ fröhliche Urständ. Der hochspezialisierte Milchbauer wird zum Anhängsel und Spielball der Molkereien und Handelsorganisationen.

Subventionen für die Bürokratie

Aber mildern nicht die vielgepriesenen EU-Subventionen diese Wettbewerbshärten? Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ist eine der ältesten Erfindungen auf europäischer Ebene und seit 1962 in Kraft. 2022 erhielt die Bundesrepublik rund 6,3 Milliarden Euro EU-Zuschüsse für den landwirtschaftlichen Sektor, 70 Prozent der Fördermittel sind Flächenprämien (Direktzahlung je Hektar). Ohne diese Direktzahlungen wäre die Mehrheit der landwirtschaftlichen Betriebe schon heute „stehend k.o.“, denn die Fördermittel machen zwischen 41 und 62 Prozent(!) des landwirtschaftlichen Einkommens der Haupterwerbs- und Nebenerwerbsbetriebe aus. Je größer die Hektarzahl, desto höher die Direktzahlung, die Milliardengeschenke an die Grußgrundbetriebe beschleunigen den forcierten Verdrängungswettbewerb. Außer den Direktzahlungen werden die dicksten Tranchen der EU-Finanzhilfe gar nicht an Bauern, noch nicht einmal an Großbauern überwiesen, sondern fließen in den Wasserkopf der Agrarbürokratie (60,06 Millionen Euro an die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) oder 17 Millionen Euro an das Bayerisches Landwirtschaftsministerium).

Großagrarier oder Untergang

Die Versuche kleinbäuerlicher Betriebe, durch Maßnahmen der Produktveredelung oder durch Spezifikation dem Höfesterben und der Krisenhaftigkeit profitorientierten Wirtschaftens zu entgehen, sind ebenso vielfältig wie ihr Scheitern strukturell programmiert ist. Der Fesselung an sein zentrales Produktionsmittel, den Boden, der ihm wegen der Bindung an Naturprozesse ohnehin stetig Zwänge auferlegt, kann der Bauer trotz kontinuierlicher Weiterentwicklung der Produktionsweise (Perfektionierung von Fruchtwechsel, Futtermittel-, Düngemittel- und Maschineneinsatz) nicht entfliehen. Er kann zwar „das ganze Produkt seiner eigenen Arbeit sich selbst aneignen“, verhält sich aber gleichzeitig „als sein eigener Kapitalist zu sich selbst als Lohnarbeiter“, wie Karl Marx zutreffend schreibt.

Die Landwirtschaft im Kapitalismus stellt den Bauern damit tagtäglich vor die unfreiwillige Alternative, sich entweder rechtzeitig auf die Seite der Großagrarier zu schlagen oder den Betrieb aufzugeben, um sich zukünftig als Lohnarbeiter zu verdingen.

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"Inflation, Verdrängung, Höfesterben", UZ vom 9. Februar 2024



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