Nun also auch die US-amerikanische Notenbank Federal Reserve (Fed): Ihr Präsident Jerome Powell hatte – ähnlich wie die Europäische Zentralbank (EZB) – lange an der Prognose festgehalten, die Preissteigerungsraten von rund 5 Prozent seien vorübergehender Natur und erforderten keine Änderung der Niedrigzinspolitik.
Vor dem Kongress korrigierte Powell diese Einschätzung. Zwar bliebe er bei der Erwartung, dass sich die preistreibenden Lieferkettenprobleme und die Energiepreise beruhigen würden. Das werde aber doch wohl länger dauern und andere Faktoren würden dafür sorgen, dass die Inflation bis weit ins nächste Jahr bliebe. Es sei daher an der Zeit, die Formulierung „vorübergehend“ angesichts der Fakten „in den Ruhestand zu schicken“.
Derzeit sinkt einerseits der Ölpreis leicht, aber dafür gibt es Alarmsignale von einem für den Lebensstandard breiter Volksschichten viel wesentlicheren Preis: Weizen wurde an der europäischen Leitbörse für landwirtschaftliche Produkte, der MATIF in Frankreich, seit Herbst 2013 bis Mitte 2020 für um die 200 Euro pro Tonne gehandelt. Seitdem geht es mit den üblichen Schwankungen beständig aufwärts. In der zweiten Novemberwoche notierte er erstmals über 300 Euro. Für die „FAZ“ schätzte am 19. November Wieland Staud in einer „technischen Analyse“ ein, dass dies nicht der Endpunkt sein werde, sondern Steigerungen um weitere 8 bis 10 Prozent zu erwarten seien. Die leichte Entlastung an den Tankstellen wird schon jetzt aufgewogen durch die spürbare Verteuerung des Lebens für jeden, der bei Aldi oder anderswo Nudeln und Brot aus dem Regal in den Einkaufswagen gelegt hat.
Während es international um die Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, immer einsamer wird, hält ihr ausgerechnet die gewerkschaftsnahe, vor allem von Aufsichtsratsmitgliedern der abhängig Beschäftigten finanzierte Hans-Böckler-Stiftung die Stange. Wie in der UZ bereits berichtet, hatte mitten in der Tarifrunde für die Angestellten der Länder der Direktor des dort angesiedelten Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, öffentlich verkündet, man solle angesichts der Preissteigerungen „keine Panik schieben“. Leute wie er werden prompt – so zum Beispiel in der „FAZ“ vom 3. Dezember – zum Kronzeugen gegen Forderungen gemacht, die Preissteigerungen durch Lohnerhöhungen auszugleichen. Sie tragen mit ihrem Einfluss in den Gewerkschaften dazu bei, dass bislang praktisch alle Abschlüsse in den Tarifrunden der letzten Monate deutlich unter der Preissteigerungsrate von 5 Prozent geblieben sind. Das trifft nicht nur auf den Abschluss für die zwei Millionen Beschäftigen der Länder zu, den der ver.di-Vorsitzende Franz Werneke am 4. Dezember in den „ver.di news für Aktive“ hinsichtlich der tabellenwirksamen Mini-Erhöhung von 2,8 Prozent für zwei Jahre für „absolut nicht befriedigend“ erklärte. Selbst der Abschluss für den IT-Dienstleister der Genossenschaftsbanken, also für Arbeitskräfte, die bis vor kurzem am Markt noch hoch begehrt waren, liegt mit mageren 2,1 Prozent Steigerung ab 1. Juli diesen und noch einmal 1,8 Prozent ab 1. Juli nächsten Jahres deutlich unter 5 Prozent und bedeutet spürbaren Reallohnverlust.
Damit wird sich vermutlich ein Prozess beschleunigen, der die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) dazu veranlasste, am 2. Dezember mit der Schlagzeile „Angst um die Mittelschicht“ aufzumachen. Diese Gruppe, beschwört das Blatt, halte „das Land zusammen“, schrumpfe aber. Junge Leute würden den Aufstieg immer seltener schaffen, beklagt es mit Verweis auf eine aktuelle Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der nun ganz und gar nicht gewerkschaftsnahen Bertelsmann-Stiftung. In Deutschland – wie in den meisten anderen alten kapitalistischen Industrienationen – bröckle diese Schicht nach unten weg und das mittlere Einkommen stagniere seit Beginn dieses Jahrtausends. Die alte Hoffnung gerade dieser Schichten, dass es den eigenen Kindern (noch) besser gehen würde als ihnen selbst, ist mehr und mehr dahin und weicht einer Stimmung des langsamen, unaufhaltsamen Abstiegs.
Klar ist: Die Kombination aus einer stetigen 5-prozentigen Inflation und einem Zinsniveau Null nützt – neben Immobilienbesitzern und Besitzern von Produktionsmitteln – vor allem den Staatshaushalten der meist hoch verschuldeten imperialistischen Nationen, deren Schulden sich so binnen eines Jahrzehnts, gerechnet in realen Werten, nahezu halbieren würden. Ihnen nützt die Stillhaltepolitik der EZB. Die Zeche aber zahlen schon jetzt all jene, die keine Immobilien oder Fabriken besitzen und nur mit Lohn, Lohnersatzleistung oder Rente ihre Nudeln, ihren Sprit und ihre Heizung bezahlen können. Ihre Nöte stärker in den Mittelpunkt zu rücken statt sich im Beifall der Gegenseite zu sonnen, sollte Ziel der Debatten in den Gewerkschaften sein – spätestens mit Blick auf die in der zweiten Jahreshälfte 2022 beginnenden Tarifgespräche in der Metall- und Elektroindustrie.