Erinnerungen an den Friedensstaat DDR

Indoktrination für den Frieden

Von Uli Brockmeyer

Uli Brockmeyer (Jahrgang 1951) wurde in Brandenburg an der Havel geboren, war Mitglied in FDJ und SED und Oberleutnant der Grenztruppen der DDR. Er studierte Außenpolitik am Institut für Internationale Beziehungen der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR und arbeitete bis 1990 im Zentralrat der FDJ in der Abteilung für Internationale Verbindungen, auch als Vertreter der FDJ im Büro des Weltbundes der Demokratischen Jugend (WBDJ) in Budapest. Seit 2005 lebt er in Luxemburg und ist Redakteur der kommunistischen Tageszeitung „Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek“ und Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Partei Luxemburgs.

Dieser Tage fiel mir eine alte, leicht vergilbte Fotografie in die Hände, aufgenommen vor rund 60 Jahren in meiner Heimatstadt Brandenburg, der damaligen Stahlarbeiterstadt an der Havel. Die Stadt liegt, wie seit über tausend Jahren, heute immer noch an der Havel, nur von den zeitweise rund zehntausend Stahlarbeitern ist nicht viel mehr als eine Erinnerung geblieben …

Auf dem Foto ist eine belebte Straßenecke im Zentrum der Stadt zu sehen, das damals noch von einigen Ruinen aus dem Zweiten Weltkrieg gezeichnet war. An einer Giebelwand ein großes Wandbild, das drei Jugendliche vor der Fahne der Freien Deutschen Jugend zeigt und dazu die Aufforderung: „Kämpft mit der Jugend für Frieden und Wohlstand!“

Zu jener Zeit hatte ich im Kindergarten des Volkseigenen Betriebes (VEB) Stahl- und Walzwerk das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube gelernt, wie tausende andere Kinder in der jungen DDR in hunderten anderen Kindergärten:

„Kleine weiße Friedenstaube,

fliege übers Land.

Allen Menschen, groß‘ und kleinen,

bist Du wohlbekannt“.

In einer weiteren Strophe heißt es:

„Fliege übers große Wasser,

über Berg und Tal,

bringe allen Menschen Frieden,

grüß sie tausendmal“.

Indoktrination, sagen manche dazu. Man könnte sogar sagen, eine Anmaßung, so wenige Jahre nach dem Krieg, den Deutsche über die halbe Welt hereingebrochen hatten. Vielleicht war es eine Anmaßung – aber nicht weniger als eben das, den Wunsch nach Frieden auf der ganzen Welt, hatte sich der junge Staat DDR auf die Fahnen geschrieben.

Nachdem ich in der Heinrich-Heine-Schule endlich das ABC beherrschen gelernt hatte, konnte ich auch nach und nach erfassen, was dort im Foyer mit ehernen Buchstaben an der Wand zu lesen war: „Laßt das Licht des Friedens scheinen, daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.“

Zeilen aus der Nationalhymne der DDR, geschrieben von dem deutschen Kommunisten Johannes R. Becher – Zeilen, verlacht und verspottet jenseits der Elbe damals als „Spalterhymne“; und verachtet, auch weil da von Frieden die Rede war.

Als Kinder standen wir im Mai oft an den Straßen, wenn die Friedensfahrt, die Internationale Radfernfahrt für den Frieden, die jeweils am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, in Berlin, Prag oder in Warschau gestartet wurde, wieder einmal durch unsere Stadt kam. Wir fieberten den pfeilschnellen Fahrern entgegen, jubelten „Täve, Täve“, auf der Suche nach unserem Spitzenfahrer „Täve“ Schur, und freuten uns über den Anblick der Fahrer der jeweils besten Mannschaft, die blaue Trikots trugen mit dem Abbild der kleinen weißen Friedenstaube von Pablo Picasso.

Ja, es stimmt, die Verantwortlichen im Staat DDR gaben sich große Mühe, uns Kinder zu „indoktrinieren“. Aber nachdem zuvor jahrzehntelang Generationen von Kindern und Jugendlichen mit dem Gift der Verachtung gegenüber anderen Völkern, mit Rassenhass und Antikommunismus indoktriniert worden waren – wofür das deutsche Volk und fast alle Völker Europas die Rechnung zu zahlen hatten –, blieb denjenigen, die nun die Führung des neuen Staates übernommen hatten, keine Alternative, als uns von frühester Jugend an mit dem Gedanken des Friedens und der Freundschaft zu anderen Völkern vertraut zu machen.

Die DDR, der erste Staat auf deutschem Boden, in dem den Kriegstreibern durch die Enteignung der Produktionsmittel die wirtschaftliche und die politische Macht genommen worden war, sollte ein Staat des Friedens sein – eine Anmaßung, die uns die Enteigneten niemals verziehen haben.

Nicht genug damit. In der DDR wurde auch eine Armee aufgestellt, um den errungenen Frieden zu schützen, der, das ist belegt, durchaus auch militärisch bedroht war. Im Unterschied zur Armee der Bundesrepublik Deutschland wurde die Nationale Volksarmee der DDR jedoch nicht von Offizieren aufgebaut, die zuvor in der „Legion Condor“ im Krieg gegen die Spanische Republik und dann in der faschistischen Wehrmacht Kriegserfahrungen, Dienstränge und Orden erworben hatten – sondern von gestandenen Antifaschisten. Viele von ihnen hatten in den Reihen der Internationalen Brigaden die Spanische Republik gegen die spanischen, deutschen und italienischen Faschisten verteidigt, andere waren politische Gefangene in den faschistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen gewesen, einige von ihnen hatten sogar ihre militärischen Erfahrungen in den Reihen der Sowjetarmee im Kampf gegen den Faschismus gesammelt.

Für immer im Gedächtnis bleiben wird mir jener kampferprobte Kommandeur, der uns eines Tages im Sommer 1971 in der Uniform eines Obersten der Grenztruppen der DDR gegenüber saß und aus seinem Leben berichtete. Er war 1936 als junger Kommunist dem Ruf der Kommunistischen Internationale zur Verteidigung der Spanischen Republik gefolgt, kämpfte als Leutnant in einer Einheit der Interbrigaden. Nach der Niederlage der Republik gelang ihm die Flucht in die Sowjetunion, wo er nach dem Überfall Hitlerdeutschlands seinen Platz in den Reihen der Sowjetarmee fand und als Leutnant an der Befreiung seiner Heimat teilnahm. Später gehörte er dann zu den Gründern der Nationalen Volksarmee der DDR.

Er war sichtlich stolz darauf, Offizier in der ersten und einzigen Armee eines deutschen Staates zu sein, die niemals an einem Krieg gegen andere Völker beteiligt war. Der berechtigte Stolz klang vor allem aus seinen Worten, die er uns zum Abschied sagte: „Ich war Soldat in drei Armeen – und jedes Mal in der richtigen!“ Welcher deutsche Offizier konnte so etwas von sich sagen?

Auf dem Foto mit dem Wandbild aus den 50er Jahren ist die Straße zu sehen, die ein Dutzend Jahre zuvor noch „Adolf-Hitler-Straße“ geheißen hatte. Sie war inzwischen in „Hauptstraße“ umbenannt worden. Deren östliche Verlängerung hieß zu Zeiten der DDR „Friedensstraße“. Diesen Namen hat man irgendwann nach 1990 in „Sankt-Annen-Straße“ geändert.

In der letzten Strophe des Kinderliedes heißt es:

„Und wir wünschen für die Reise

Freude und viel Glück.

Kleine weiße Friedenstaube,

komm recht bald zurück!“

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"Indoktrination für den Frieden", UZ vom 4. Oktober 2019



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