UZ: Industrie 4.0, das klingt nach Fabrik und von Männern dominierten Berufsfeldern. Was verstehst du unter dem Begriff und wie wirken sich die damit verbundenen Veränderungen in der Produktion besonders auf weibliche Beschäftigte aus?
Christina Flügge: Industrie 4.0, das heißt ja zunächst einmal in der Produktion, dass Menschen, Werkstücke und Maschinen über das Internet permanent verbunden sind. Jeder zu bearbeitende Rohling teilt der Maschine bereits mit, was mit ihm passieren soll, wie er bearbeitet werden muss usw.; Roboter arbeiten Hand in Hand mit Menschen, sind anpassungsfähig. Das verändert Industriearbeit natürlich in großem Ausmaß.
Die Digitalisierung geht aber weiter, wird die Arbeit in Büros und Verwaltungen – und das nicht nur in den Industriebetrieben – verändern und betrifft Tätigkeiten im Dienstleistungssektor und unter anderem dort dann eben auch Bereiche, in denen mehrheitlich Frauen beschäftigt sind.
Es fallen durch diese Entwicklung nicht nur Aufgaben und Arbeitsplätze weg, es werden sicherlich auch neue entstehen, zum Beispiel in der Softwareentwicklung, im IT-Bereich usw. Allerdings liegt der Frauenanteil hier bisher bei unter 20 Prozent.
Frauen begeistern sich häufig für „mobiles Arbeiten“ –, hoffen, damit Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bekommen. Allerdings hat die Medaille wie immer eine Rückseite: Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzgestaltung sind kaum kontrollierbar und je nach Arbeitsvolumen sind auch überlange Arbeitszeiten möglich bzw. nötig, um das gewünschte Ergebnis abzuliefern. Hinzu kommt die Tendenz, dass damit auch ständige Erreichbarkeit erwartet wird. Die jetzige Entwicklung zu Befristungen und Flexibilisierung der Arbeit, ohne festen Arbeitsplatz und ohne verlässliche Berufsperspektive könnte sich weiter verschärfen. Gleichzeitig wird gefordert, sich ständig weiterzuentwickeln, komplexer zu arbeiten, sich fort- und weiterzubilden. Eine Unterbrechung der beruflichen Tätigkeit ist da kaum noch vorstellbar.
Das ist allerdings kein frauenspezifisches Problem, das gilt im Übrigen auch für Männer.
UZ: Mit Industrie 4.0 wird auch ein Schub bei der Produktivität erwartet. Gibt es hier nicht die Perspektive, Arbeitszeit zu verkürzen, anstatt Stellen zu streichen und mehr Druck auf die Beschäftigten auszuüben?
Christina Flügge: Die hohe Produktivität könnte im Sinne der Beschäftigten jede Menge Vorteile bringen, was Arbeitszeit und Entlohnung betrifft. Aber die Frage ist doch, wer den Takt vorgibt und wo welche Entscheidungen getroffen werden. Wir blicken auf zwei Jahrzehnte Abwehrkämpfe zurück. Gerade bei der Arbeitszeit geht die Tendenz immer wieder in Richtung verlängerter Arbeitszeiten.
Um hier wieder mehr Druck zu entwickeln, brauchen wir organisierte Beschäftigte. Aber wie sieht die Zukunft aus, wenn immer mehr Tätigkeiten extern vergeben werden können oder Beschäftigte gar nicht mehr in den Betrieb kommen müssen, um ihre Arbeitsleistung zu erbringen? Kennen die Kolleginnen und Kollegen sich zukünftig möglicherweise gar nicht mehr? Was ist mit „freien“ MitarbeiterInnen ohne festen Arbeitsort oder „digitalen Tagelöhnern“? Wie können Gewerkschaften diese organisieren und mit ihnen Gegenmacht entwickeln? Besonders in den Gewerkschaften müssen wir darüber reden, wie wir die betriebliche Mitbestimmung in dieser Hinsicht erweitern können. Wenn Software-Programme zukünftig darüber bestimmen, wie in den Unternehmen gearbeitet wird und somit den Arbeitstakt vorgeben, brauchen wir bereits bei der Entwicklung Regeln, die unsere Einflussnahme sichern. Das stellt die Kolleginnen und Kollegen in den Betriebsräten vor neue Herausforderungen. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir die Arbeitsintensität, Arbeitszeit usw. unter diesen Bedingungen mitgestalten können und wollen. Bisher habe ich allerdings den Eindruck, dass das Thema eher von Experten diskutiert wird. Bei den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb ist es noch gar nicht richtig angekommen.
Wohin wird die Reise gehen: individuelle Freiheit und Zeitsouveränität der Beschäftigten oder erhöhter Arbeitszwang, mehr Chancen auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder ständige Verfügbarkeit auch zu Hause? – Beides ist möglich. Es gilt noch auszuhandeln, wer Industrie 4.0 zu seinem Nutzen gestalten kann. Fest steht nur, dass wir uns einer schnellen Umwälzung unseres Arbeitsalltags gegenübersehen.
UZ: Wie sieht es mit der Möglichkeit der (Leistungs-)Kontrolle der Beschäftigten aus?
Christina Flügge: Auch hier ist die Frage, wer da was und wen kontrolliert. Die Dokumentation der Arbeitsleistung kann auch zu deren Begrenzung dienen. Es wäre also nicht nur möglich, jederzeit nachzuvollziehen, welcher Arbeitsschritt bereits vollzogen ist und wer welche Aufgabe in welchem Tempo erledigt, sondern es geht eben auch, dass die Arbeitszeit kontrolliert und begrenzt wird, indem zum Beispiel der Zugang auf eine bestimmte Zeit beschränkt wird. Hier gilt es insbesondere klare Regeln zu vereinbaren.
UZ: Welche Aufgaben siehst du noch auf uns zukommen?
Christina Flügge: Auf jeden Fall müssen wir uns darüber verständigen, welche Möglichkeiten wir, aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, mit Industrie 4.0 verbinden und welche Forderungen wir aufstellen, so wie wir das auf Einladung der Frauenkommission in Altena getan haben.
Allein die Gefahren, die mit Industrie 4.0 auf uns zu kommen, zu sehen und davor zu warnen, das wird nicht reichen. Wir müssen auch die damit verbundenen Möglichkeiten thematisieren und eigene Vorstellungen dazu entwickeln.
Und was die Durchsetzung betrifft, da brauchen wir mehr Information und Diskussion mit den Betroffenen – und nicht zuletzt BündnispartnerInnen, die unsere Interessen unterstützen.