Am 14. Juli 1912 wurde Woddy Guthrie in Okemah, Oklahoma, geboren. Trotz seines frühen Todes am 3. 10. 1967 gehört er zu den bedeutendsten Folkmusikern der USA. UZ sprach mit Bobbi und Steve Siegelbaum vom Walkabout Clearwater Chorus New York über Guthrie und die Bedeutung von Protestliedern.
UZ: Welche Songs würdet ihr auswählen für ein Woody-Guthrie-Erinnerungskonzert?
Bobbi: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Zuerst wegen des schieren Umfangs von Woody Guthries Oeuvre, schätzungsweise mehr als 3.000 Songs. Zum anderen haben die Songs eine durchweg hohe Qualität und zum dritten ein breites Themenspektrum, von Liedern der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und Balladen zu den Inlandsmigranten, die in den 1930er Jahren von der „Dust Bowl“ in Oklahoma nach Kalifornien flohen. Hinzu kommen Anti-Nazi-Schmählieder, Propagandasongs für Roosevelts New-Deal-Projekte zur Elektrifizierung des Westens, Lieder für den Frieden und vieles mehr, nicht zu vergessen seine Kinderlieder.
UZ: Woody hat sich auch da buchstäblich zu jedem Anlass etwas einfallen lassen, ursprünglich natürlich für seine eigenen Kinder, zum Beispiel „Riding in my car“ („Jetzt fahr’n wir mit dem Omnibus“). In der BRD hat sie vor allem Frederik Vahle populär gemacht.
Steve: All das zeugt nicht nur von seiner brillanten Schreibkunst, sondern auch von universeller, zeitloser Relevanz seiner Songs. Also ist die Frage nicht, welche Songs wir auswählen würden, sondern welche wir weglassen sollten. In unserem Repertoire finden sich einige, die Woodys Persönlichkeit unserer Ansicht nach sehr gut widerspiegeln und warum er noch heute so bedeutend ist. An erster Stelle steht in jedem Fall „This land is your land“, sein bekanntester und wohl bedeutendster Song.
UZ: Bedauerlicherweise wird euer Chor erstmals nach zwei Jahrzehnten beim Pressefest nicht auftreten können, eine ganz wichtige musikalische Tradition wird fehlen. Wie kamt ihr denn eigentlich zu dieser Teilnahme an einem Fest der deutschen Kommunisten?
Steve: Der Auslöser für unsere Auftritte bei den Pressefesten von 2001 bis 2016 war ein Buch. „Comrades“, die Memoiren des Interbrigadisten Harry Fisher aus dem Spanischen Krieg, waren auf Deutsch erschienen. Und die DKP lud ihn zu einer Lesung auf dem UZ-Pressefest 2001 ein. Den hochbetagten Autor begleitete sein Sohn John. Er leitete damals den Walkabout Clearwater Chorus.
Für alle von uns, die an UZ-Pressefesten teilnehmen konnten, waren dies Höhepunkte in der langen Geschichte des Chors. Nicht zuletzt, weil es unsere einzigen Auftritte außerhalb der USA waren. Vor allem aber bot sich uns so die Gelegenheit, ganz viele Künstlerkollegen und Genossinnen und Genossen kennenzulernen und uns auszutauschen – musikalisch wie auch sonst.
Mit Gruppen wie „Liedstöckl“ oder „Cuppatea“ zusammen aufzutreten, auch von ihnen neue Songs zu lernen, war eine Riesenfreude. Außerdem vertiefte und festigte all das unsere Verbundenheit mit Pete Seeger, der unseren Chor ins Leben gerufen hatte. War doch Pete in allererster Linie Internationalist und Universalist. So war es uns eine besondere Freude, 2009 eine Videobotschaft von ihm zum Pressefest mitbringen zu können.
UZ: Welche Songs von Woody Guthrie hattet ihr im Programm?
Bobbi: Woodys Lieder verdanken wir Pete Seeger. Schon deshalb gehörten sie von den ersten Anfängen an zu unseren Auftritten. „This land is your land“ haben wir vermutlich öfter gesungen als jeden anderen Song. Es ist wirklich unsere Hymne – und sollte eigentlich auch die Hymne der USA sein. Unter den anderen Liedern von Woody, mit denen wir aufgetreten sind, waren: „Deportee“, „Hobo’s Lullaby“, „I’ve got to know“, „Peace Call“, „So long it’s been good to know you“; „Sinking of the Reuben James“(Antikriegslied); „Union Maid“ („Die Gewerkschaftskollegin“), „Worried Man Blues“.
UZ: Verratet ihr uns einen eurer persönlichen Favoriten?
Bobbi: Einer davon ist „Deportee“.
Steve: „Hobo’s Lullaby“.
UZ: Beide sind ja absolut aktuell – und wurden oft gecovert, zum Beispiel von Joan Baez. In „Deportee“ geht es um den rassistischen Umgang mit Arbeitsmigranten, abgeschobenen Erntehelfern im Süden, wie auch um Lebensmittelvernichtung. „Hobo’s Lullaby“ stammt ursprünglich von dem US-Liedermacher Goebel Leon Reeves. Dieses Lied über Arbeitslose und Wohnungslose, die während der Depression zu Tausenden durchs Land streiften auf der Suche nach Brot und zumindest einem Gelegenheitsjob, spiegelt auch Woodys eigene Erfahrungen wider. Sein Sohn Arlo Guthrie machte „Hobo’s Lullaby“ zum Titel seines Albums von 1972. Worin besteht eigentlich Woody Guthries anhaltende Wirkung auf Musiker und Musikerinnen?
Bobbi: Wie bereits erwähnt, ist Woody – in der Überlieferung durch Seeger – für viele nach wie vor der „Vater“ und Inbegriff des politischen Protestsongs. Pete Seeger verkündete bei vielen Gelegenheiten, dass es in seinem Leben nur zwei geniale Menschen gegeben habe: Woody Guthrie und Lee Hays, seinen Bandkollegen bei dem Quartett „The Weavers“. Ich glaube, Pete meinte damit zwei Dinge: Die unübertroffene Fähigkeit, leidenschaftliche und ausdrucksstarke und zugleich einfühlsame, zutiefst menschliche Texte zu schaffen. Und dies nahezu unbegrenzt, über jedes noch so triviale oder unwichtige Ereignis. Und das schlicht und scheinbar mühelos. In dieser genialen Leichtigkeit scheint er Mozart zu gleichen. Hinzu kommt sein Erzähltalent, durch klare Bilder sein Publikum unmittelbar zu packen – voilà, das eigentliche Wesen des Liedermachens.
Steve: Alle Großen des Folk nach Woody Guthrie wurden von ihm beeinflusst und inspiriert. Man erinnere sich nur an den jungen Bob Dylan …
UZ: … der ihm den „Song to Woody“ und das Poem „Last Thoughts on Woody Guthrie“ widmete …
Steve: Ja, aber auch Tom Paxton wäre zu nennen, John McCutcheon, Ani di Franco, die auch zusammen mit Woodys Tochter Nora auftrat; Tom Chapin; Leon Rosselson und Billy Bragg in Britannien …
UZ: … ihm übergab Nora Guthrie mehr als 3.000 unveröffentlichte Gedichte, die sie und ihre Mutter Marjorie im Nachlass fanden. Zusammen mit Wilco brachte Billy Bragg dann 1998 das legendäre „Mermaid Avenue“-Album heraus. Zu erwähnen ist hier in diesem Zusammenhang auch der in der DDR aufgewachsene Hans-Eckardt Wenzel.
Steve: Wie gesagt, wir könnten buchstäblich noch Hunderte andere aufzählen.
Zwar gab es Folk als Ausdruck des Protests schon immer, lange vor Woody Guthrie. Was wir allerdings unter der Wiedergeburt des Folk verstehen, dem eigentlichen „Boom“, das begann so etwa in den 1950ern. Zu jener Zeit war Woody schon nicht mehr aktiv. Er befand sich bereits in einer Klinik – gezeichnet von der unheilbaren Krankheit, an der er mit 55 Jahren starb. Aber sein Einfluss – zuerst und vor allem auf Seeger und dann auf die, die Seeger seinerseits inspirierte – ist bis heute stark zu spüren. Und wird wahrscheinlich noch in Jahrhunderten nachwirken, selbst bei denen, die seinen Namen gar nicht kennen.
UZ: Obwohl Rockstars wie Bruce Springsteen Guthrie gecovert haben, ist er der Mehrzahl der jungen US-Amerikaner am ehesten durch seine Kinderlieder bekannt. Wie sind eure Erfahrungen in der Begegnung mit Schulkindern?
Bobbi: Die Kinder, für die (und mit denen zusammen) wir bei Auftritten in Schulen singen, reagieren durchweg sehr positiv auf unsere Musik. Viele kennen „This land is your land“, vielleicht sogar noch ein bis zwei weitere Lieder. Aber ihnen gefallen auch Lieder von Pete Seeger und anderen „Nachfahren“ Woodys. Wenn möglich, versuchen wir die Kinder aktiv einzubeziehen, indem wir an ihnen vertrauten Namen und Ereignissen anknüpfen – zum Beispiel an Martin Luther King und den Kämpfen der Bürgerrechtsbewegung.
Für Bobbi und mich gibt es eigentlich kaum etwas Schöneres, als mit diesen Kindern zu musizieren. Und das gilt auch für die anderen Walkabouters.
UZ: Bei der Amtseinführung Barack Obamas sang Pete Seeger „This land is your land“ mit Bruce Springsteen und anderen Musikern und einem gemischten, größtenteils schwarzen Schulkinderchor.
Steve: Für mich wie für viele andere Linke in den USA sollte dies – leider! – der größte und einzige Höhepunkt seiner Präsidentschaft bleiben. Seine acht Jahre im Weißen Haus sind eindeutig durch vielfaches Scheitern gekennzeichnet. Das liegt in seiner starken Bindung an die Demokratische Partei begründet und deren enger Verflechtung mit der herrschenden Klasse, mit den imperialistischen Großkonzernen.
Indem Obama Pete Seeger für seine Amtseinführung auswählte, tat er genau das, was er in soundso vielen anderen Fällen auch machte: Er gab uns ein Gefühl der Hoffnung auf Änderung. Ein Versprechen, das er nie einlöste.
Das Interessanteste an dem Ganzen ist aber ein anderer Aspekt. Als Pete gefragt wurde, willigte er ein, aber nur unter einer Bedingung: Er wollte alle Strophen von „This land“ singen. (Die letzten werden normalerweise weggelassen, UZ)
Damit meinte er zum einen die Strophe, in der Woody das Versagen des Kapitalismus anprangert:
„In the squares of the city,
by the shadow of the steeple
By the relief office, I saw my people
As they stood there hungry,
I stood there whistling (that)
This land was made for you and me.“
(Auf den Plätzen der Stadt,
im Schatten des Kirchturms,
am Fürsorgeamt sah ich
meine Leute;
Wie sie da hungrig standen,
stand ich dabei und pfiff
vor mich hin:
Dies Land gehört dir und mir.)
(Übs. E. P.)
Und zum anderen meinte er die radikalste, die „kommunistische“ Strophe:
Was a great high wall there that
tried to stop me
Was a great big sign,
said „Private Property“
But on the other side,
it didn’t say nothing
That side was made for you and me.
(War ’ne große hohe Mauer da,
um mich aufzuhalten,
mit einem Schild dran:
„Privat – kein Zutritt“.
Doch auf der andern Seit’ –
ja, da stand gar nix,
Das war die Seite für dich und mich.)
(Übs. E. P.)
UZ: Während des Zweiten Weltkriegs stand auf Woodys Gitarre „This machine kills fascists“. Schreckt sein politischer Radikalismus in heutiger Zeit nicht eher ab?
Steve: Darauf gibt es wiederum nicht nur eine Antwort. Viele haben Woody nachgeeifert und ebenfalls Slogans auf ihre Musikinstrumente geschrieben. Am berühmtesten in der Folk-Szene dürfte Pete Seeger sein mit seiner Banjo-Aufschrift „Diese Maschine umzingelt den Hass und zwingt ihn zur Kapitulation.“ In ihrer Geschichte sind die USA auf verschiedene Weise immer wieder recht gut mit politisch radikalen Künstlerinnen und Künstlern fertig geworden. Sie kamen auf McCarthys Schwarze Liste, wie zum Beispiel Seeger und die „Weavers“. Sie waren Schikanen und anderen Repressionen der Regierung ausgesetzt wie Paul Robeson. Oder ihnen wurden die Verdienstmöglichkeiten massiv beschnitten – wie Unzähligen anderen.
Bobbi: Wenn sie dann gestorben sind oder den Herrschenden als nicht mehr so „gefährlich“ erschienen, waren ihnen die Medien gnädiger gesonnen. Manche werden sogar zu kulturellen Ikonen verklärt. Dafür ist Pete wohl das beste Beispiel. Was Woody betrifft, so ist er wahrscheinlich heute bekannter als zu seinen Lebzeiten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Zeit seiner kreativen Phase und seiner Auftritte ja nur relativ kurz war. Trotzdem ist es wohl so, dass den meisten Amerikanern sein Name nichts mehr sagt. Selbst wenn sie doch ein paar seiner Songs kennen.
UZ: Zum Schluss die Frage aller Fragen an euch als progressive Künstler: Kann Musik die Welt verändern?
Steve: Um eine meiner Lieblingszeilen aus Petes Song „Letter to Eve“ (Dt. Brief an Eva) zu zitieren: „Wenn allein die Musik Frieden bringen könnte, würde ich nur noch Musik machen.“
Woody wie auch Pete war bewusst, welche Power, welch große Motivierungs- und Mobilisierungskraft in der Musik steckt. Was übrigens letztlich allen Weltreligionen seit Jahrhunderten klar war. Deswegen haben so viele radikale, fortschrittliche Bewegungen die Melodien beliebter Hymnen und Spirituals, versehen mit neuem Text, übernommen – von den Industrial Workers of the World eines Joe Hill und der Arbeiterbewegung der 1930er bis hin zur Bürgerrechtsbewegung in den USA.
Bobbi: Bis zum heutigen Tag werden Lieder wie „Solidarity forever“, „Ain’t gonna let me turn around“, „We shall not be moved“ (Dt. „Keiner schiebt uns weg“) oder „Which side are you on“ häufig auf Kundgebungen, Demos und bei anderen Straßenaktionen gesungen …
UZ: …Und neue Lieder entstehen immer wieder in und mit den Kämpfen …
Steve: Dazu ein Beispiel aus unserer Zeit: Mein Freund John McCutcheon – der wohl beste und wichtigste musikalische Erbe von Woody und Pete – schrieb vor einigen Jahren einen zornig-kämpferischen Song „The Machine“. Anlass für diesen, von der Inschrift auf Woodys Gitarre inspirierten Song waren die Ausschreitungen in Charlottesville, Virginia, im Sommer 2017 …
UZ: … wo die Demo gegen einen Naziaufmarsch angegriffen wurde. Eine junge Frau wurde absichtlich mit dem Auto überfahren und getötet, 19 Antifaschisten verletzt. Die Ereignisse lösten eine nationale Debatte zur Gefahr des Rechtsterrors aus …
Steve: Ja, in diese Debatte griff John mit seinem Song ein. Darin ließ er Woody selbst sprechen: „Ich war dabei, als wir Birkenau befreiten; jedes Gesicht sehe ich noch vor mir. Ich habe nicht gegen die Nazis gekämpft, um sie jetzt hier gewähren zu lassen.“
Alles in allem würde ich sagen, dass zwar Musik für sich genommen die Welt nicht ändern kann. Jedoch ist sie vielleicht das beste Mittel, um Menschen zu mobilisieren für den Kampf um Veränderungen.