In Stein gehauen: Die deutsche Justiz tadelt Den Haag

Ein Kommentar von Ulrich Sander

Der Herr ist 65 Jahre alt, hochrangiger deutscher Jurist und Schüler jener Professorengeneration, die unter Hitler als Juristen wirkte und dies unter Adenauer fortsetzte. Er war Justizstaatssekretär, Bundesrichter und von 2001 bis 2008 erster deutscher Richter des Haager Tribunals zur Verurteilung jugoslawischer Politiker und Militärs. In der „Süddeutschen Zeitung“ schließt dieser Wolfgang Schomburg sich den empörten Stimmen an, die den Freispruch von Vojislav Seselj, serbischer Politiker und vieler Kriegsverbrechen angeklagt, scharf verurteilen. Dieser habe Vertreibung und Mord befehligt. Und Schomburg lässt durchblicken, dass zu seiner Zeit in Den Haag ein Freispruch des Nationalistenführers unmöglich gewesen wäre.

Warum eigentlich? Vertreibung und Mord zu befehligen hat in der westdeutschen Justizgeschichte stets Freisprüche und Strafbefreiung ausgelöst, wenn die Täter Wehrmachts- und später Bundeswehrsoldaten waren. Über eintausend Bundeswehrangehörige, die vor 1945 der Wehrmacht oder SS angehörten, wurden in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften als mutmaßliche Mörder und Totschläger geführt. Nicht einer wurde verurteilt.

In ihrer bekannten Erklärung „Gegen die neue Art der Auschwitzlüge“ haben 1999 Holocaust-Überlebende um Peter Gingold und Julius Goldstein die Kriegsbegründung der deutschen Regierung kritisiert und ausgeführt: „Soll vergessen sein, dass nicht nur kaiserliches Heer, Reichswehr und Wehrmacht erprobte Serbenschlächter in ihren Reihen hatten, sondern auch die Bundeswehr? Wir verweisen auf Wehrmachtsoberst Karl-Wilhelm Thilo, der in der Bundeswehr höchster General und Kommandeur der 1. Gebirgsdivision – jener Division, die nun wieder auf dem Balkan die deutsche Fahne vertritt – sowie stellvertretender Heeresinspekteur wurde. Er unterzeichnete Massenmordbefehle gegen Jugoslawen, und er schrieb an Büchern, die in der Bundeswehr kursierten, um den Völkermord zu preisen.“

Nicht nur Thilo entging seiner Bestrafung und machte in der Bundeswehr Karriere. Über einhundert Täter wurden von antifaschistischen Gruppen und der VVN-BdA noch 2002 angezeigt, erfolglos. So Reinhold Klebe. In der Begründung der Strafanzeige hieß es: „In Kommeno in Nordgriechenland fuhren sie am 16.8.1943 zum Morden ‚feldmarschmäßig‘ mit Maultieren und dem Küchenwagen vor und erschossen 317 Frauen, Männer und Kinder. Die stolzen Soldaten der 12. Kompanie des Gebirgsjäger-Regiments 98 unter dem späteren Bundeswehroffizier und damaligen Major Reinhold Klebe, die sich auch nach dem Krieg weiter ungestört im Kameradschaftskreis der Gebirgstruppe treffen, ermordeten nicht nur die unschuldigen Zivilisten, einzelne Soldaten machten sich noch über die Frauenleichen her und schändeten sie, wie einer der Täter später berichtete. Nach ‚getaner Arbeit‘ wurde dann das Dorf zum privaten Raubzug freigegeben: ‚Die Soldaten waren aber so erschöpft, dass sie von den herumliegenden Sachen kaum etwas mitgenommen haben. Lediglich die Offiziere haben erbeutete Teppiche und andere Wertgegenstände auf LKWs verladen und weggebracht‘, berichtete Franz T. bei seiner polizeilichen Vernehmung 1970.“

Damals begann Wolfgang Schomburg seine Juristenkarriere. Und 2002, als die deutsche Justiz, zu der Schomburg zählte, die damals noch lebenden Wehrmachtstäter laufen ließ, da war er schon in Den Haag. In der „Süddeutschen“ Zeitung schrieb er jetzt in seiner Anklage gegen seine heutigen internationalen Richterkollegen und ihren Seselj-Freispruch: „Eine schwere Niederlage – insbesondere soweit es um die friedensstiftende Wahrheitsfindung geht. Was über Jahre in Stein gemeißelt worden war und vielen Opfern Halt und vorsichtige Zuversicht gab, stellt dieses Urteil infrage.“

Es fragt sich, wo der so behandelte Stein gestanden hat. In der Bundesrepublik Deutschland gewiss nicht. Er stand nicht in Bonn, wo der Bundeswehroberst Georg Klein, der am 4. September 2009 den Mord an rund 150 afghanischen Zivilisten befehligte, nicht wegen Kriegsverbrechen vor Gericht kam, sondern auch noch zum Brigadegeneral befördert wurde. Er stand nicht in Ludwigsburg und Weilheim, wo die Justizbehörden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und der Gruppe Angreifbare Traditionspflege mitteilten, dass man in der Angelegenheit noch lebender Kriegsverbrecher aus den Reihen der Gebirgstruppe nichts mehr tun könne. Und der Stein der Gerechtigkeit stand wohl auch nicht in Rothenburg/Hessen. Dort traf am 6. November 1994 der 18-jährige Piotr Kania am Bahnhof auf fünf Bundeswehrrekruten. Einer der Rekruten war als Neonazi erkennbar, er wurde von Kania angesprochen und erstach den jungen Antifaschisten. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, weil der bewaffnete Soldat gegen den Unbewaffneten „in Notwehr“ gehandelt habe.

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"In Stein gehauen: Die deutsche Justiz tadelt Den Haag", UZ vom 8. April 2016



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