Zur Berichterstattung im Nahost-Konflikt

In Geiselhaft

Der englische Philosoph Francis Bacon meinte, dass die Gegenwart älter als die Vergangenheit sei, weil sie eine durch die Jahrhunderte gereifte Zeit ist. Wer dieses Geschenk der Erfahrung auslässt – so lässt sich Bacon interpretieren –, kann seine Gegenwart nicht begreifen.

In den letzten Jahren zeigt sich in vielen mit angeblich unabhängigen Medien ausgestatteten Staaten, dass ihr Journalismus weit von einem Zusammenhangsdenken entfernt ist, das er zwar nie so recht, aber immerhin schon besser beherrscht hat. Teilweise ist solches Vernebeln durch ein Auslassen von Ursache/Wirkung-Prinzipien gewollt, teils ist es schlechter Ausbildung geschuldet. Die Nachfrage nach einem tieferen Grund, die doch jede Lehrkraft vor Siebtklässlern stellt, wenn scheinbar wahllos ein Kind ein anderes schlägt, ist der übliche Vorgang, um diesen Konflikt zu begreifen und ihn in der Folge lösen zu können. Die Erkenntnis, dass das aggressiv gewordene Kind womöglich über Monate gemobbt und provoziert wurde, ist für eine Versöhnung erforderlich.

Diese Suche ist bei den weltpolitisch bedeutenden Themen auf kriminelle Weise außer Acht geraten. So kommt es, dass Russland grundlos einen Krieg gegen die Ukraine beginnt, und so greift die Hamas völlig aus dem Nichts Israel an. Und so wird Russland zum willkürlichen „Terrorstaat“ und die islamistische Hamas zur unpolitischen „Terrororganisation“, so wie die Ukraine zur Demokratie und Israel – dessen Regierung selbst von deutschen Medien zuletzt des Öfteren als rechtsextremistisch bezeichnet wurde – zum Opfer. Vorgeschichten dazu gibt es nicht; Grautöne sind Fehlanzeige.

Israels staatlicher Platz ist durch die Shoa begründet und ebenso gerechtfertigt wie ein palästinensischer Staat, der von Israel aber gegen jede UN-Resolution verhindert wird. Israels Gesellschaft ist in dieser Frage allerdings keineswegs homogen – wie es auch die palästinensische bei der Frage, wie sie gegen das herrschende völkische Unterdrückungsmodell in Israel agieren sollte, nicht ist. Es führt in die Irre, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass zwischen Unterdrückern und Unterdrückten kein Krieg unter Gleichen geführt wird. Aber durch den Nebel des Wahns beiderlei religiöser Extremismen muss genauso erkannt werden, dass in beiden Gesellschaften die Vernunft in Geiselhaft ist.

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"In Geiselhaft", UZ vom 20. Oktober 2023



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