Vor 100 Jahren beendete die junge Sowjetmacht die ausländische Intervention (Teil 1)

„In der Wiege ersticken …“

Nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 war Russland das erste Land, dem es gelang, sich aus dem imperialistischen Krieg zu lösen. Die weitere revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, die Stabilisierung der Sowjetmacht und die Sicherung ihrer Verteidigungsfähigkeit hingen nicht nur von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen im Lande selbst ab, sondern auch von den internationalen Auseinandersetzungen.

In der Außenpolitik des jungen Sowjetstaats stand der Kampf um Frieden im Mittelpunkt. Die erste Maßnahme der Sowjetregierung in dieser Hinsicht war das „Dekret über den Frieden“, in dem wichtige Bedingungen für einen dauerhaften demokratischen Frieden formuliert wurden – die Verantwortlichkeit aller Regierungen und Völker für dessen Sicherung, das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und die Erklärung der Eroberungskriege zum größten Verbrechen an der Menschheit.

Um die Sowjetmacht zu sichern, musste der Krieg beendet werden. Da die Ententeregierungen sich weigerten, auch nur Gespräche über einen allgemeinen demokratischen Frieden zu führen, begann der Sowjetstaat Friedensverhandlungen mit Deutschland und dessen Verbündeten. Deutschland ging auf den Vorschlag ein – nicht aus Friedensliebe, sondern weil es sich ebenfalls in einer schwierigen militärischen und wirtschaftlichen Lage und politischen Krise befand.

In den am 9. Dezember 1917 begonnenen Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk machte die Sowjetregierung den Vorschlag, einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen abzuschließen. Deutschland hingegen erhob Anspruch auf die Moonsund-Inseln, den Rigaer Meerbusen, Riga, die im Krieg eroberten polnischen Gebiete sowie Litauen und Teile Lettlands und Belorusslands. Im Komplott mit der sozialdemokratisch dominierten ukrainischen Rada, die – gerichtet gegen die Bolschewiki – im Januar 1918 die Selbstständigkeit der Ukraine verkündete, spekulierte Deutschland darauf, sich auch diesen Teil Russlands einverleiben oder als Vasallenstaat von sich abhängig machen zu können.

Innenpolitisch war die Sowjetregierung damit konfrontiert, dass alle konterrevolutionären Elemente – die Monarchisten, Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre – einen heftigen Kampf gegen den Friedensschluss führten.

Gegner der Friedensverhandlungen gab es auch unter den Bolschewiki – zu ihnen gehörten Nikolai Bucharin und Leo Trotzki sowie deren Anhänger. Nach Auseinandersetzungen im Zentralkomitee wurde mehrheitlich beschlossen, der sowjetischen Delegation in Brest-Litowsk die Anweisung zu geben, die Verhandlungen fortzusetzen, aber im Falle eines deutschen Ultimatums den Friedensvertrag zu unterzeichnen. In den Diskussionen ging Wladimir Iljitsch Lenin davon aus, „dass der grundlegende Wandel jetzt darin besteht, dass die Sowjetrepublik Russland geschaffen worden ist, dass sowohl für uns als auch vom international-sozialistischen Standpunkt aus gesehen die Erhaltung dieser Republik, die die Revolution bereits begonnen hat, das Allerwichtigste ist, dass die Losung des revolutionären Krieges vonseiten Russlands im gegenwärtigen Augenblick entweder eine Phrase, eine leere Demonstration wäre oder objektiv hieße, in eine Falle gehen, die uns die Imperialisten gestellt haben, um uns als vorläufig noch schwachen Faktor wieder in den imperialistischen Krieg hineinzuziehen und die junge Sowjetmacht auf möglichst billigem Wege niederzumachen“.

Die folgenden Ereignisse zeigten, wie recht Lenin hatte. Die Offensive der deutschen Truppen erwies, dass das Ziel Deutschlands darin bestand, die Sowjetmacht zu stürzen und Zugriff auf die Ressourcen des Landes zu erhalten. Durch den Abschluss des Brest-Litowsker Friedens am 3. März 1918 wurde die Vernichtung der Sowjetmacht verhindert. Zwar hatte das Land schmerzliche Verluste zu verzeichnen: Ein Territorium von rund einer Million Quadratkilometern – darunter die Ukraine –, die wertvollsten Getreideanbaugebiete, fast alle Ölquellen und Kohlegruben sowie große Teile der Industrie gingen zeitweilig verloren. Aber es wurde Zeit gewonnen, um mit dem Aufbau der Wirtschaft zu beginnen, die Rote Armee aufzustellen und den Sowjetstaat zu errichten.

Damit wurden wesentliche Voraussetzungen geschaffen, um den Widerstand gegen die Intervention der Entente und die Weißgardisten zu organisieren. Denn die ausländische Reaktion konnte sich nicht mit der Existenz eines Landes abfinden, in dem die gesellschaftliche und politische Alternative zum Kapitalismus realisiert wurde – erst recht nicht insofern, als damit ein Beispiel für die Werktätigen der kapitalistischen Länder geschaffen wurde, das dort schon revolutionäre Wirkung zeigte. Überdies wollten die Herren der Banken und Konzerne nicht die Milliarden verlieren, die sie der zaristischen und der Provisorischen Regierung als Anleihen zur Verfügung gestellt hatten – und auch nicht die Profite daraus. Schließlich waren die Politiker und Militärs der Ententemächte durch das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg aufs Höchste beunruhigt, denn die russische Armee hatte bis dahin über die Hälfte der deutschen Truppen gebunden. Nicht zuletzt fürchteten sie, dass die Friedenspolitik Sowjetrusslands auf die Bevölkerung ihrer Länder zunehmenden Einfluss gewinnen könnte.

Geleitet wurden die Aktionen der imperialistischen Kreise der Entente­länder von ihrer langfristigen Konzeption. Ein räuberischer Überfall auf Sowjetrussland wurde seit den ersten Tagen der Oktoberrevolution vorbereitet. Vertreter der Regierungen Britanniens, Frankreichs, der USA und Japans trafen sich schon im Dezember 1917, um zu beraten, wie man – so der damalige britische Rüstungsminister Winston Churchill – „den Bolschewismus in der Wiege ersticken“ könne und um sich hinsichtlich der Verteilung der „Einflusssphären“ in Russland abzustimmen. Frankreich übernahm den Kampf gegen die Sowjetmacht in der Ukraine, auf der Krim und in Bessarabien. Britannien sollte am Don, am Kuban und im Kaukasus aktiv werden. Sibirien und der Ferne Osten wurden von den USA und Japan übernommen. Neben der direkten Intervention vereinbarte man, alle antibolschewistischen Bewegungen finanziell und materiell zu unterstützen. Admiral Alexander Koltschak erhielt zum Beispiel von den USA 1919 rund 400.000 Gewehre samt dazugehöriger Munition und tausende andere Waffen und Maschinengewehre. Das Rote Kreuz lieferte 300.000 Sätze Unterwäsche und andere Ausrüstung. Die von General Anton Denikin geführten Truppen bekamen 380.000 Gewehre, Panzer, rund 1.000 Lkws, gepanzerte Autos und Flugzeuge sowie Uniformen für mehrere 100.000 Mann.

Nachdem der Abschluss des Friedensvertrags von Brest-Litowsk die Hoffnungen der Interventionsmächte, die Sowjetrepublik mithilfe der deutschen Armee niederzuschlagen, zunichtegemacht hatte, landeten britische, französische und US-amerikanische Truppen im Juni und August 1918 in Murmansk und Archangelsk. Ihren Einfall in Sowjetrussland versuchten die Alliierten mit dem Hinweis auf die angeblich notwendige „Verteidigung des Murmansker Gebietes gegen die Deutschen“ zu rechtfertigen.

Schon vor der Intervention in Nord­russland erfolgte ab April 1918 der Einmarsch im Fernen Osten. Japanische und britische sowie – ihnen folgend – US-amerikanische Verbände landeten in Wladiwostok an der Pazifikküste. Damit waren die USA zu direkten und aktiven Teilnehmern der Intervention in Sibirien und im Fernen Osten geworden. Im Südwesten Russlands annektierte – unterstützt von Britannien, Frankreich und den USA – die königliche rumänische Regierung Bessarabien.

In den von den Interventen besetzten Gebieten wurden die Organe der Sowjetmacht liquidiert und konterrevolutionäre „Regierungen“ eingesetzt, so in Omsk die sibirische „Regierung“ und in Samara das „Komitee der Mitglieder der Konstituierenden Versammlung“. In diesen „Regierungen“ dominierten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die den Charakter ihrer Macht durch heuchlerische Losungen über Demokratie verschleierten.

Gegen Sowjetrussland vereinigten sich bis Sommer 1918 also zwei wichtige konterrevolutionäre Kräfte – die ausländischen Interventen und die weißgardistischen Kräfte Russlands mit ihren Anhängern.

Tagung der Marx-Engels-Stiftung: „Menschenbild im Klassenkampf“
Wer politisch erfolgreich sein möchte, muss mit anderen zusammenwirken. Bewusstseinsbildung und gemeinsames Handeln müssen dabei durch das Nadelöhr des individuellen Subjekts. Welchen Widersprüchen sind die Menschen heute ausgesetzt? Wie verarbeiten sie diese? Wie lassen sich diese Prozesse „politisch“ gestalten?
Die Tagung beginnt am Freitag, dem 28. Oktober 2022, um 19.00 Uhr und endet am Samstag, dem 29. Oktober 2022, um 16.00 Uhr. Ort der Tagung ist die Bildungsstätte „Hoffmanns Höfe“ in Frankfurt am Main. Mit Beiträgen von Diether Dehm, Wahfa Monfared, Eva Niemeyer, Wolfgang Trunk und Werner Zimmer-Winkelmann.
Anmeldung: marx-engels-stiftung@t-online.de

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"„In der Wiege ersticken …“", UZ vom 21. Oktober 2022



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