UZ-Interview mit Rainer Braun zum Aktionstag der Friedensbewegung am 5. Dezember

In der Tradition des „Krefelder Appells“

Vor 40 Jahren wurde der „Krefelder Appell“ veröffentlicht. Mehr als 50 Millionen Menschen forderten mit ihrer Unterschrift den Stopp der atomaren Hochrüstung. Heute steht die Welt wieder vor der Gefahr eines atomaren Infernos. Die Friedensbewegung mobilisiert für den 5. Dezember anlässlich der Haushaltsberatungen im Bundestag zu dezentralen Aktionen. Die Proteste richten sich auch gegen den von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) geplanten Einkauf von Kriegsflugzeugen für den Transport von US-Atombomben. UZ sprach mit Reiner Braun über den anstehenden Aktionstag. Braun ist einer der Initiatoren der Kampagne „Abrüsten statt aufrüsten“ und im Beirat der Kooperation für Frieden. Eine gekürzte Fassung erschien in der Printausgabe.

UZ: Am 16. November vor 40 Jahren wurde der „Krefelder Appell“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Für die jüngeren Leserinnen und Leser: Was hat es damit auf sich gehabt?

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Reiner Braun (Foto: Hans-Dieter Hey / r-mediabase.eu)

Reiner Braun: Der „Krefelder Appell“ war der größte Appell in der Geschichte Westdeutschlands gegen atomare Aufrüstung. Er hat sich von 1980 bis 1983 gegen die Stationierung US-amerikanischer Erstschlagwaffen in Deutschland und in Europa gewandt und hatte am Ende über fünf Millionen Unterschriften. Er war im ersten Anlauf 1983 nicht erfolgreich. Die Atomwaffen wurden stationiert, aber sie wurden 1987/1988 – sagen wir mal, auch als Langzeitwirkungen des „Krefelder Appells“ – wieder abgeschafft. Von daher war der Appell sicher eine der erfolgreichsten Aktionen der Friedensbewegung. Er war so etwas wie das Gründungsdokument der Friedensbewegung der 1980er Jahre.

UZ: Damals waren auch die Grünen noch beteiligt – zum Beispiel Gert Bastian und Petra Kelly. Bedauern Sie, dass Bündnis 90/Die Grünen heutzutage nicht mehr die Rolle in der Friedensbewegung spielen, die sie einst gespielt haben?

Reiner Braun: Eine Rolle in der Friedensbewegung kann man nur spielen, wenn man die friedenspolitischen Grundforderungen der Bewegung gegen Krieg und für Abrüstung teilt. Bündnis 90/Die Grünen tun dies heute nicht mehr. Das kann man auch dem neuen Entwurf des Grundsatzprogramms sehr genau entnehmen. Darin tauchen die Worte Abrüstung, Entspannungspolitik, ja, selbst Atomwaffen nur am Rande auf. Der Entwurf ist 60 Seiten lang und der Friedensteil umfasst, wenn ich sehr positiv rechne, eineinhalb Seiten. Dies ist vielleicht der letzte signifikante Ausdruck dafür, dass sich die Partei Bündnis 90/Die Grünen mit dem Jugoslawienkrieg und ihrer Zustimmung zu dem völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz von der Friedensbewegung verabschiedet hat. Ihre Zustimmung zu fast allen Kriegseinsätzen und ihre aggressive Konfrontationspolitik sind mit Friedenspolitik nicht zu vereinbaren. Trotzdem, auch bei Bündnis 90/die Grünen gibt es noch aufrechte Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten.

UZ: Die Friedensbewegung hat in den vergangenen Jahren ja oft Unterschriften gesammelt. Für die von Ihnen maßgeblich initiierte Initiative „Abrüsten statt aufrüsten“ sind zuletzt mehrere Zehntausend Unterschriften zustandegekommen. Wie erklären Sie sich aber, dass Massenmobilisierungen wie in den 80er Jahre heute nicht mehr zustandekommen?

Reiner Braun: Es gibt historisch ja keine einfache Wiederholung von Aktionen. Die Einmaligkeit des „Krefelder Appells“ kann man da nur unterstreichen. Er ist in einer ganz spezifischen Situation entstanden, in der verschiedene soziale Bewegungen – die Frauen-, Umwelt-, Friedens- und Gewerkschaftsbewegung – und verschiedene Persönlichkeiten über die Grenzen ihrer alten Bündnisstrukturen hinausgegangen sind. Der Konservative Gert Bastian war ja noch CDU-Mitglied, als er den „Krefelder Appell“ unterschrieb. Konservative und Umweltaktivisten fanden sich damals mit Linken zusammen. In der deutschen Bevölkerung herrschten wegen der US-amerikanischen Pläne, Krieg in Europa führbar zu machen, Angst und Sorge, die auch historisch einmalig waren. Daher sollte man Aktionen heute nicht mit damals vergleichen, kann aber Lehren daraus ziehen.

UZ: Welche wären das?

Reiner Braun: Die erste Lehre ist: die Friedensfrage ist eine Frage der breitesten Bündnisse und Zusammenarbeit, eine Überlebensfrage. Alle Kräfte, die sich bei dieser Überlebensfrage einreihen, sind in der Friedensbewegung willkommen. Das schließt übrigens Faschisten per se aus, weil sie Kriegsbefürworter und Kriegstreiber, Gewalttäter nach innen und außen sind. Man kann daraus lernen, dass es darauf ankommt, gesellschaftlich aktiv zu sein und gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren. Und das ist, glaube ich, auch einer der Gründe für die Initiative „Abrüsten statt Aufrüsten“. Sie versucht wieder Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zusammenzubringen, um die Abrüstungsfrage, die ich heute für eine Schlüsselfrage halte – nicht nur wegen des Geldes, das nur einmal ausgegeben werden kann – in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses zu rücken.

Deswegen ist die Initiative „Abrüsten statt Aufrüsten“ in den letzten Wochen auch im Arbeitsausschuss erweitert worden. Personen von „Fridays for Future“, der Umweltbewegung, aus der Kultur und auch der IG Metall sind hinzugekommen. Und ich glaube, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind: In der Tradition des „Krefelder Appells“, aber unter völlig anderen Rahmenbedingungen.

UZ: Für den 5. Dezember rufen Sie mit Blick auf die Aufstockung des Rüstungshaushalts und die Haushaltsberatungen des Bundestages zu einem bundesweiten Aktionstag auf. Was genau kritisieren Sie?

Reiner Braun: In der Realität haben wir ja schon im Haushalt 2020 die 50-Milliarden-Grenze überschritten, wenn man die NATO-Kriterien anlegt. Der Rüstungshaushalt soll im nächsten Jahr noch einmal um 2,6 Prozent – nach jetzigem Kenntnisstand -, wahrscheinlich sogar noch mehr erhöht werden. Neue Korvetten, Kampfflugzeuge, Panzer, Drohnen, die Liste der Militarisierung ist fast nicht mehr auf eine Seite zu schreiben. Wir wollen, dass das mindestens in die Öffentlichkeit kommt, aufmerksam darauf gemacht wird. Wir wollen weitere Unterschriften sammeln, um das Ziel zu erreichen, diesen Wahnsinn der Aufrüstung zu stoppen und einen Prozess einzuleiten, der hin zur Abrüstung führt.

Deswegen wollen wir in der Woche, bevor dieser nur noch als wahnwitzig zu bezeichnende Etat beschlossen wird, auf die Straße gehen. Unter den Rahmenbedingungen von Corona, dezentral in so viel wie möglich Orten in dieser Republik. Ich bin eigentlich ganz optimistisch. Wir haben jetzt, gut drei Wochen vor den Aktionen, schon mehr als 25 Orte, in denen die konkreten Planungen feststehen. Vieles ist noch in der Diskussion. Ich bin sicher, dass wir flächendeckend etwas Ordentliches hinbekommen. Die Quantität der einzelnen Aktionen ist natürlich auch Corona-bedingt sehr schwer einzuschätzen und. Aber wir setzen ein Signal für den Frieden, es gibt uns wieder und verstärkt auch auf den Straßen und Plätzen.

UZ: Wie erklären Sie sich eigentlich in Zeiten leerer Kassen, in denen sehr viele Investitionen getätigt werden müssen, um die Folgen der Corona-Pandemie abzuschwächen, dass man über 50 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben kann? Es ist doch für jeden offensichtlich, dass wir jetzt Geld für den Gesundheitsbereich brauchen.

Reiner Braun: Es gibt mehrere Elemente, die sich in dieser Corona-Pandemie noch einmal verstärkt haben. Das eine ist der Militarismus, der ist ungehemmt weitergegangen. Und das zweite ist die Schaffung verstärkter autoritärer Strukturen und Verhaltensnormen im Inneren. Zugespitzt deutlich wird dies durch den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung . Erst ruiniert man das Gesundheitssystem und dann ruft man die Bundeswehr, um die Ruine zu verwalten. Das ist die Logik. Wenn man dieser Logik folgt, wird man die Bundeswehr künftig überall da haben, wo es um soziale, umwelt- oder gesundheitspolitische Interessenvertretung geht. Insofern kann ich nur sagen: Wir haben viel zu wenig Aufsehen um diesen Einsatz der Bundeswehr im Innern gemacht. Wir dürfen das nicht dulden.

UZ: Für jeden normal denkenden Menschen ist es doch offensichtlich, dass da was nicht stimmt mit den Ausgaben für die Rüstung …

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Juli 2019, Blockade des Fliegerhorstes Büchel in der Eifel (Foto: Hartmut Drewes und Sonja Schwertfeger)

Reiner Braun: Ich bin mir nicht sicher, inwieweit die Feindbildpropaganda wirkt. Also inwieweit die Hetze, die uns permanent über Russland und China geliefert wird, nicht auch ihre, wenn auch bisher geringe, Wirkung zeigt. Einerseits glaube ich, es gibt nach wie vor eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung für Entspannungspolitik und Abrüstung. Diese muss aber immer wieder „verteidigt“ und argumentativ und auch plastisch untermauert werden. Das geschieht nur, wenn die Gegenkräfte – die Friedensbewegung, aber auch die Gewerkschaften – immer wieder darauf aufmerksam machen. Das geschieht viel zu wenig. Selbst bis in linke Kreise hinein gibt es ja Tendenzen, nicht mehr in der Politik mit Russland die gemeinsame Sicherheit, die Abrüstung, das Überleben im gemeinsamen Haus Europa in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Entlarvung vielleicht kritisierenswerter Vorgänge. Das lenkt davon ab, dass es unseren Regierungen um etwas ganz anderes geht. Nämlich um ökonomische, geostrategische Hegemonie mindestens in Europa und eine militaristisch abgesicherte weltweite Ressourcenpolitik. Deutschland soll aktiv beteiligt sein bei der Neuaufteilung der Welt unter den neuen Kräfteverhältnissen. Da geht es auch um den Zugriff auf die russischen Ressourcen.

UZ: Selbst in der Partei „Die Linke“ oder in linken Kreisen sind viele friedenspolitische Grundsätze in Frage gestellt worden. Was konkret sagen Sie denn zum Beispiel den Linksparteipolitikern, die sagen, besser die Bundeswehr kümmert sich um die Gesundheitsversorgung im Inland, als dass sie in Afghanistan oder sonst wo Leute erschießt?

Reiner Braun: Ich sage denen, dass man Cholera nicht mit Pest austreiben kann. Das heißt, wir brauchen einen deutlichen Ausbau des Gesundheitswesens. Wir haben im Frühjahr, gewusst, dass es im Herbst eine zweite Corona-Welle gibt. Kein einziger ist im Gesundheitswesen eingestellt worden, keiner ist weiter ausgebildet oder qualifiziert worden. Stattdessen ruft die Regierung nach der Bundeswehr. Wir brauchen eine grundsätzliche Wende und die heißt Abrüsten. Das Geld muss für Gesundheitspolitik ausgegeben werden. Den Regierenden geht es weder um einen Ausbau des Gesundheitswesens, noch um den Abzug der Truppen aus Afghanistan. Den Regierenden geht es um die geostrategische Neuaufteilung. Da spielt ein kaputtgespartes Gesundheitssystem eine Rolle, weil es wenig kostet. Und da spielt die Bundeswehr eine Rolle, weil sie die Kriege führen soll, um die Interessen an Ressourcen wie Öl und ähnlichem zu sichern. Es geht immer um eine grundsätzliche Alternative. Wenn diese Krise irgendetwas zeigt, ist es, dass es einer grundsätzlichen Alternative bedarf. Und die muss ganz vieles infrage stellen. Dazu gehört sicher auch die Eigentumsfrage beziehungsweise die Systemfrage.

UZ: Sie haben ja schon gesagt, es ergeben sich neue Partnerschaften auch für die Friedensbewegung – etwa mit „Fridays for Future“. Ist das die Modernisierung der Bewegung, die lange auch eingefordert worden ist und eine Art Neuaufstellung?

Reiner Braun: Wir stehen bei der Neuaufstellung wirklich am Anfang. Wir haben neue Möglichkeiten und neue Partner, nicht nur auf Bundesebene. Das, was wir jetzt mit der der Initiative „Abrüsten statt Aufrüsten“ hinbekommen haben, gibt es ja auch in Ansätzen an vielen Orten. Der Prozess hin zu einer wieder starken und mobilisierungsfähigen Friedensbewegung ist noch lang. Wir haben nur in Ansätzen die Dynamik, die notwendig wäre.

Es fehlen vor allen Dingen junge Menschen, die sich mit eigenen Organisationsstrukturen, entsprechend ihren eigenen politischen Erfahrungen, ihrer Online-Affinität wieder stärker in die Friedensbewegung einbringen. Es fehlen auch noch Erfahrungen wie gemeinsame Aktionen in größerem Umfang organisiert werden können und wie solidarische Diskussionen über eine friedliche Zukunftsgestaltung in Gang kommen, die ich mal unter dem groben Aspekt fassen würde, wie kommen wir zu einer sozial-ökologischen Friedenstransformation dieses Systems? Da bedarf es noch vieler weiterer Arbeiten und Diskussionen aber vor allem gemeinsame Aktionen. Und für mich ist der 5.12. ein aktionsorientierter Auftakt auch für diese Debatten.

Alle Termine und Informationen zum bundesweiten Aktionstag am 5. Dezember: www.friedenskooperative.de

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"In der Tradition des „Krefelder Appells“", UZ vom 20. November 2020



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