Ende März wurde die Shortlist für den alljährlichen Internationalen Dubliner Literaturpreis 2023 veröffentlicht. Unter den sechs Romanen auf der Liste befindet sich ein Buch der ostdeutschen Schriftstellerin Katja Oskamp, „Marzahn, mon amour“. Der Titel ist vor allem Ostberlinern ein Begriff, die Marzahn sofort als das einst ehrgeizigste und größte soziale Wohnungsbauprogramm der DDR erkennen, in dem über 270.000 Menschen ein Zuhause fanden.
Der Dubliner Preis ist ein ungewöhnlich basisdemokratischer Preis, Vorschläge werden jedes Jahr von über 400 öffentlichen Bibliotheken in 177 Ländern eingereicht. Eine internationale, wechselnde Jury erstellt dann eine Shortlist und wählt daraus den Gewinner. Bibliotheken aus aller Welt können sich für die Teilnahme an den Nominierungen bewerben, so gibt es zum Beispiel auch Teilnehmer aus Afrika und Asien. Der Preis ist für ein Buch bestimmt, das entweder auf Englisch geschrieben oder ins Englische übersetzt wurde, wobei in letzterem Fall ein Viertel des Preisgeldes von 100.000 Euro an den Übersetzer geht, die verbleibenden 75.000 an den Autor.
„Marzahn, mon amour“ wurde von den Stadtbüchereien Düsseldorf nominiert. Das Buch hat es überraschenderweise an den etablierten Verlagen vorbei geschafft, die im Allgemeinen Stimmen von gewöhnlichen Menschen über das gewöhnliche Leben nicht gern veröffentlichen, vor allem, wenn sie über nicht so coole Orte schreiben. Darüber hinaus geht es in Oskamps Buch um ganz normale Ostberliner, die meisten von ihnen Rentner, vornehmlich Frauen, die älter werden.
In jeder Hinsicht hatte Oskamps Buch schlechte Karten. Und doch wurde es nicht nur veröffentlicht und von einer westdeutschen Bibliothek für den Dubliner Literaturpreis nominiert, sondern schaffte es sogar auf die Shortlist.
Das Buch steht in einer literarischen Tradition der DDR, die den Alltag von Menschen, untrennbar mit der Arbeitswelt verbunden, in den Mittelpunkt stellt. Das vielleicht berühmteste Beispiel in der DDR-Literatur ist Maxi Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ (1977). Es enthält Interviews mit neunzehn Frauen im Alter zwischen sechzehn und zweiundneunzig Jahren, die über ihr Leben sprechen. Einem thematisch ähnlich gelagerten Buch mit Männer-Interviews von Christine Müller, „Männer-Protokolle“ (1985), folgte später Christa Wolfs tagebuchartige Publikation „Ein Tag im Jahr“ (2003), in der sie ihre eigenen Überlegungen zum immer gleichen Datum, dem 27. September, von 1960 bis 2000 festhält.
Das gleiche Interesse am Alltagsleben einfacher Leute spiegelt sich in der Dokumentation der DDR-Filmemacher Winfried und Barbara Junge wider, deren epische Serie „Die Kinder von Golzow“ 1961 begann und bis 2007 lief. Sie zeichnet das Leben von achtzehn Menschen nach, die zwischen 1953 und 1955 geboren wurden. Dieser basisdemokratische Ansatz stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der staatlichen Kulturpolitik der DDR, die darauf abzielte, die Künste für die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung direkt zugänglich zu machen und sie zur Teilnahme an den Künsten zu ermutigen.
Die Bewahrung der Erinnerung als Gegenwehr gegen die völlige Umschreibung der Geschichte nach dem Anschluss der DDR an die BRD wurde wichtiger denn je. Im Gegensatz zu einigen Romanen, die sich dem Diktat dieser neuen Ordnung nach 1990 beugten, hat die dokumentarische Aufzeichnung des gewöhnlichen Lebens der Menschen einen eigenen Raum eingenommen. Ein großartiges Beispiel dafür ist Katrin Rohnstocks interviewbasiertes Buch „Mein letzter Arbeitstag: Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe“ (2014). In diesem Buch werden die Erinnerungen von DDR-Werktätigen und deren Leben vorgestellt. Eine jüngere Generation hinterfragt derzeit die tatsächlichen Lebenserfahrungen in der DDR, in die sie hineingeboren wurden, in der Kindheitserinnerungen dominieren, die jedoch sind alt genug, um sich auf den Wahrheitsgehalt ihrer Erinnerungen zu verlassen und gleichzeitig das Leben nach der Wende zu reflektieren. Zu diesen Autoren gehören Andreas Ulrichs „Die Kinder von der Fischerinsel“ (2021) und Grit Lemkes „Kinder von Hoy“ (2021), die fest in dieser Tradition stehen. Lemkes Buch fängt auf wunderbare Weise die Atmosphäre des Aufwachsens in der neuen Stadt Hoyerswerda ein, die für die Arbeiter der Braunkohleindustrie gebaut wurde, den Gemeinschaftssinn, das tiefe Verständnis für die Kultur, und verfolgt das Leben dieser jungen Menschen bis zum freien Fall ins neue Deutschland.
Katja Oskamps Roman „Marzahn, mon amour“ beginnt mit der Reflexion der Autorin über ihre eigene Geschichte: „Die mittleren Jahre, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre. Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das du zusteuerst, erkennst du noch nicht deutlich genug. In diesen Jahren strampelst du in der Mitte des großen Sees herum, gerätst außer Puste, erschlaffst ob des Einerleis der Schwimmbewegungen. Ratlos hältst du inne und drehst dich dann um dich selbst, eine Runde, noch eine und noch eine. Die Angst, auf halber Strecke unterzugehen ohne Ton und ohne Grund, meldet sich.
Ich war vierundvierzig Jahre alt, als ich die Mitte des großen Sees erreichte. Mein Leben war fad geworden – das Kind flügge, der Mann krank, die Schreiberei, mit der ich es bisher verbracht hatte, mehr als fragwürdig. Ich trug etwas Bitteres vor mir her und machte damit die Unsichtbarkeit, die Frauen jenseits der vierzig befällt, vollkommen. Ich wollte nicht gesehen werden. Aber ich wollte auch nicht sehen, ein Überdruss an Köpfen, Gesichtern und gut gemeinten Ratschlägen. Ich tauchte ab.“
Das Buch handelt unter anderem vom Älterwerden, von der Suche nach einem Lebenssinn in jeder Altersphase und von Neuanfängen. Im Alter von 44 Jahren lässt sich die Autorin und Erzählerin zur Fußpflegerin umschulen. Sie findet eine Stelle im Salon einer Freundin in Marzahn. In diesem Buch geht es um ihre Kunden und ihre Kollegen. Aufgrund der demografischen Gegebenheiten der Gegend und des Fußpflegeservices sind die meisten (aber nicht alle) ihrer Kunden ältere Menschen. Arbeit ist ein wichtiges Thema in dem Buch, nicht nur das eigene Arbeitsleben der Erzählerin, sondern auch die früheren Berufe ihrer Kunden: „Ich kümmere mich um die Füße einiger ehemaliger Maurer, Metzger und Krankenschwestern. Es gibt auch eine Frau, die in der Elektronikbranche gearbeitet hat, eine, die Rinder gezüchtet hat, und eine andere, die Tankwartin war.“
Und so begegnet der Leser diesen Menschen und ihren Geschichten. Oskamp erzählt auch von ihren nicht-hierarchischen Beziehungen am Arbeitsplatz, sowohl zu ihrer Kollegin als auch zu der Saloninhaberin, und von ihrem gemeinsamen Ausflug. Auch sie teilte einst die naive Erwartung einer Ostdeutschen, dass ihre frühere schwere Arbeit bei Kaufland geschätzt werden würde: „Als die Arbeit sie ausgezehrt hatte und Tiffy nach zwei Bandscheibenvorfällen kündigte und um eine Abfindung bat, schlug man ihr den naiven Wunsch höhnisch ab. Vielleicht stammt aus jener Zeit die Einsicht, dass das Leben ein Verlustgeschäft ist. (…) Tiffys neuer, ebenso übermächtiger Feind ist das Finanzamt, das in jedem Quartal horrende Steuern verlangt. Sie hält durch, beißt die Zähne zusammen und lebt so sparsam, dass es Flocke und mir manchmal wehtut.“
Für die einen mögen diese Geschichten unspektakulär sein, die anderen erkennen in ihnen die Besonderheiten des Alltäglichen, auch der Tragödie, den Stoff des Lebens. Das wird umso authentischer, als Oskamp einige Gespräche im Berliner Dialekt wiedergibt – an sich schon ein Markenzeichen Ostberlins, wo er noch weiter verbreitet ist und in allen sozialen Schichten verwendet wird. Ostdeutsche kommentieren vielfach, dass es verpönt ist, so zu sprechen, wie es die einfachen Leute tun, je höher man auf der sozialen Leiter im neuen Deutschland aufsteigt. Und doch halten viele daran fest – eine kleine Geste des Protests.
Oskamp schreibt mit Verständnis und Mitgefühl. Sie bewahrt den Sinn für Solidarität und Gemeinschaft, der ein Markenzeichen der DDR-Gesellschaft war, und setzt ihn um. Die Figuren des Buches unterstützen sich gegenseitig im Leben und in den Schwierigkeiten des Älterwerdens und Alterns. Ihre Anerkennung der Gemeinsamkeit ersetzt jedes Gefühl der Überlegenheit von Status oder Geld. Teils Memoiren, teils kollektive Historie, ist die Geschichte jeder Person, beginnend mit ihren Füßen, individuell und wird mit Respekt erzählt, wobei häufig der Sinn für Humor der Kunden zum Ausdruck kommt. In ihrer Gesamtheit stellen die Einzelporträts eine Gemeinschaft von Gleichen dar. Hierin liegt ein spezifisch ostdeutsches kollektives Gedächtnis.
So ist es vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass eine deutsche öffentliche Bibliothek, die zumeist für die nicht so betuchten Leser da ist, „Marzahn, mon amour“ für den Internationalen Dubliner Literaturpreis nominiert hat. Das gewinnende Buch von den sechs Romanen auf der Shortlist wird am Donnerstag, den 25. Mai, von der Dubliner Bürgermeisterin Caroline Conroy im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals der Stadt bekanntgegeben.