Die Pandemie als Testlauf: Wie neoliberale Ideologen die Entscheidung über Menschenleben normalisieren

In der Gefahrenzone

Aus Italien gingen Berichte und Bilder durch die Medien, dass Mediziner entschieden haben, ob Corona-Patienten weiterbehandelt wurden oder auch nicht. Diese Szenarien werden auch in Deutschland diskutiert. Über dieses Auswahlverfahren sprachen wir mir Erika Feyerabend. Sie ist Geschäftsführerin von Bioskop – Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien e. V. – und Redakteurin der gleichnamigen Zeitschrift.

UZ: Vielleicht sind die Kliniken bald so überlastet, dass die Ärzte entscheiden müssen, wem sie helfen und wem nicht. Der Medizinethiker Georg Marckmann sagt dazu: Bei so einer Entscheidung „sträuben sich immer die moralischen Nackenhaare“. Was machen Ihre moralischen Nackenhaare angesichts der laufenden Debatte?

Erika Feyerabend: Die sträuben sich auch. Allerdings anders als bei Herrn Marckmann. Marckmann war federführend bei den Empfehlungen, die verschiedene Fachgesellschaften Ende März herausgegeben haben – „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der Covid-19-Pandemie“.

Aber das Ausmaß, das diese Pandemie, mit der wir es wohl zu haben, annehmen wird, ist ja gar nicht abzuschätzen. Die Zahlen sind nicht aussagekräftig. Viele Virologen bestreiten, dass das Worst-Case-Szenario realistisch ist, auf dem die Empfehlungen aufbauen. Dieses Szenario geht davon aus, dass wir nicht genug Intensivkapazitäten hätten und deshalb zwischen verschiedenen Patienten priorisieren müssen. Diese Priorisierung knüpft an die Triage der Katastrophen- oder Kriegsmedizin an. Ich glaube, dass die „Corona-Krise“ als Übungsfeld für so eine Priorisierung dienen kann.

UZ: Diese Empfehlungen zielen darauf ab, dass so viele Patienten wie möglich überleben. Was ist daran falsch?

Erika Feyerabend: Viele medizinische Entscheidungen erweisen sich erst im Nachhinein als erfolgreich oder eben nicht. Die Vorschläge der Fachgesellschaften laufen darauf hinaus, nach neun Stadien vorzugehen: von 1 (sehr fit) bis 9 (sterbend). Stadium 4 ist „vulnerabel“: keine tägliche Hilfe durch andere nötig, aber „verlangsamt“ oder „müde während des Tages“, Stadium 7 ist „sehr gebrechlich“: wegen einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung. Selbst die WHO warnt vor Diskriminierung behinderter Menschen. Das sind „Lebenswertentscheidungen“, die auch noch laut Empfehlungen an den „Patientenwillen“ gekoppelt werden. Es wird auch vorgeschlagen, zu prüfen, ob eine laufende intensivmedizinische Behandlung abgebrochen werden soll, um einen anderen, angeblich aussichtsreicheren Patienten behandeln zu können. Das bedeutet, den Wert verschiedener Menschenleben miteinander zu vergleichen.
Es liegt ja nicht nur an der Pandemie, dass wir in diese Gefahrenzone gekommen sind. Das ist auch der vorgelagerten Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens geschuldet.

Für viele ist es vielleicht nachvollziehbar, dass man in Katastrophen- und Krisensituationen so verfahren muss. Aber ich habe ein großes Problem damit, wenn solche Entscheidungen formalisiert werden. Denn das führt zu einer Normalisierung solcher Prozesse und Bewertungen. Meine Sorge ist, dass damit auf ein noch stärker kommerzialisiertes, auf höchste Auslastung ausgerichtetes Gesundheitswesen vorbereitet wird.

UZ: Wäre es besser, die Klinikbeschäftigten mit so einer Entscheidung alleine zu lassen?

Erika Feyerabend: Die Entscheidung, die intensivmedizinische Behandlung eines Patienten zu beenden für jemanden mit besseren Aussichten, ist immer schlimm. Vielleicht ist es für die Beschäftigten sogar weniger belastend, wenn sie sich an solchen Empfehlungen wie denen der Fachgesellschaften orientieren können. Man kann darum herumreden wie man will – es geht um Entscheidungen über den Wert von Menschenleben. Jetzt reden wir über einen hypothetischen Fall – dass das Worst-Case-Szenario tatsächlich eintritt. Der Diskurs um die Triage ist in der Medizinethik allgemein und über solche Richtlinien eröffnet – auch für andere, zukünftige Situationen, nicht nur für Pandemien.

UZ: Wird das Ausmaß der Corona-Pandemie in den Medien übertrieben?

Erika Feyerabend: Ja. Ich denke, die ersten Planungen sind unter einem Höchstmaß an Unwissenheit gemacht worden, beispielsweise im Bundesministerium des Inneren. Der öffentliche Diskurs war unter anderem deshalb sehr hermetisch: Es wird ganz schlimm. Auch deshalb akzeptierten die Menschen weitgehend Grundrechtsbeschränkungen, die sich nur auf Modellrechnungen stützen.

Jetzt, wo es auch um eine Lockerung der Beschränkungen geht, wird der Diskurs pluraler. Jetzt kommen auch Virologen zu Wort, die sagen: Wir können die Zahlen der Worst-Case-Szenarien nicht seriös unterlegen. Die Stimmen zur Kritik an Grundrechtsbeschränkungen mehren sich ebenfalls.

UZ: Zeigen die Berichte zum Beispiel aus Italien nicht, dass dieses Szenario nicht aus der Luft gegriffen ist?

Erika Feyerabend: Natürlich – aber vor welchem Hintergrund? Italien und Spanien wurden nach der letzten Finanzkrise gezwungen, ihr Gesundheitswesen stark zu reduzieren. Das Ergebnis ist, dass dort die Sterberate der Covid-19-Patienten jetzt viel höher ist – obwohl es doch das selbe Virus ist, das die Krankheit auslöst. In den USA ist die Sterblichkeit am höchsten – und wer stirbt? Es sind vor allem die Schwarzen und Armen. Die Zahlenspiele verstecken doch das Entscheidende: Das Ganze passiert vor dem Hintergrund eines völlig maroden, privatisierten Gesundheitswesens. Hier stehen wir zwar noch etwas besser da, aber auch hier ist die Versorgung auf Kante gestrickt. Diese Pandemie zeigt: Die Gesundheitsversorgung völlig an den Logiken eines kapitalistischen Marktes auszurichten ist auch ohne Pandemie nicht gut und für eine solche kaum praktikabel.

UZ: Das Virus wird also für einen Testlauf genutzt?

Erika Feyerabend: Wir haben auch unabhängig von der Pandemie Triage-Entscheidungen und die Formalisierung und Normalisierung von Behandlungsbegrenzungen, die höchst diskussionswürdig sind. Das wird dann als „Übertherapie“ bezeichnet. Natürlich gibt es Übertherapie, genauso wie es Fehlversorgung gibt und Unterversorgung – vor allem pflegerische. Aber das hat doch keine medizinischen Ursachen, sondern es liegt an den ökonomischen Mechanismen, die im Gesundheitssystem eingeführt worden sind.

UZ: Was müsste jetzt passieren?

Erika Feyerabend: Das, wofür sich zum Beispiel die Gewerkschaften oder die Kampagne „Krankenhaus statt Fabrik“ einsetzen: Bessere Ausbildung, mehr Personal, nicht alles auf Kante stricken.

Die Lösung bestünde darin, die Zahl der Intensivbetten dauerhaft zu erhöhen. Normalerweise sind die Intensivbetten zu 80 Prozent ausgelastet – das ist natürlich keine ausreichende Vorsorge für Krisen. Da muss man hinschauen. Ich will keine Toten aufrechnen: Aber das würde tatsächlich auch sehr viele Menschleben retten – unterversorgte Alte, Opfer infolge des Hygienemangel in den Krankenhäusern und so weiter. Die Botschaft der Gegenwart: Das Gesundheitswesen muss als öffentliche Daseinsvorsorge begriffen werden – und nicht als Wachstumsmarkt.

Das Gespräch führte Olaf Matthes

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"In der Gefahrenzone", UZ vom 17. April 2020



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