Mit der Behauptung, sie wollten „mehr Demokratie wagen“, kamen die Sozialdemokraten mit Willy Brandt zum ersten Mal ins Kanzleramt. Am 26. Januar verabschiedete sich Frank-Walter Steinmeier vor dem Bundestag ins Schloss Bellevue. Am kommenden Sonntag soll ihn die Bundesversammlung zum Präsidenten wählen. In seiner letzten Rede als Außenminister vor dem Parlament bilanzierte er – Thema war der Bundeswehreinsatz im Irak: „Ja, wir haben mehr Verantwortung gewagt!“
Mit „Mehr Demokratie wagen“ bereitete Willy Brandt das vor, was die SED „Konterrevolution auf Filzlatschen“ nannte: Den aggressiven Adenauer-Antikommunismus ersetzte er durch einen erneuerten, zeitgemäßen, als Dialog verkleideten Antikommunismus. Mit „Verantwortung wagen“ meint Steinmeier eine zeitgemäße, mit Diplomatie verkleidete Großmachtpolitik, die freundlicher daherkommt als ihre Vorgänger mit SS-Totenkopf oder Pickelhaube: Imperialismus auf Filzlatschen.
Was die neue Stärke des deutschen Imperialismus möglich macht, ist, dass die deutschen Konzerne effizient produzieren und ihren Beschäftigten wenig zahlen. Deutschland ist, verglichen mit der Produktivität, ein Niedriglohnland. Das lässt die deutsche Exportwalze so rollen, dass der Euroraum Deutsch spricht. Bevor Steinmeier unter der Kanzlerin Merkel die auswärtigen Interessen der deutschen Monopole zu vertreten hatte, kehrte er unter Kanzler Schröder sozialen Schnickschnack aus: Als Schröders Kanzleramtschef gestaltete Steinmeier die Offensive zur Massenverarmung mit, der die Regierung den Namen „Agenda 2010“ gab. Die niedrigen Löhne ermöglichen die Exporte, die deutsche Großmachtpolitiker von „Verantwortung“ träumen lassen.
„Krisen und Konflikte – Welt aus den Fugen – das haben Sie von mir in den letzten drei Jahren so oft gehört, dass manche das schon mitsprechen können“, sagte Steinmeier in seiner Rede vor dem Bundestag. Das Bild, das er von der Welt zeichnet, sieht ungefähr so aus: Islamisten bedrohen unsere Werte, die Amerikaner wählen einen unberechenbaren Präsidenten, Putin schickt grüne Männchen in die Nachbarländer. Das wehrhaft-demokratische Deutschland steht als Fels in der Brandung. Steinmeier ist sich der geschichtlichen Tragweite bewusst – in seinen Worten: Unser Land trägt „ja ständig einen nicht gerade federleichten historischen Rucksack mit sich“ herum. Aber bei aller Zurückhaltung: Wenn die Welt aus den Fugen gerät, ist Deutschland gefragt – als Verhandler, als Strippenzieher, als Besatzungsmacht.
Im vergangenen Sommer nannte Steinmeier die NATO-Manöver in Osteuropa „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“, man müsse mit Russland reden. Natürlich hat auch die Bundeswehr Soldaten ins Baltikum geschickt, um mit dem Säbel zu rasseln. Aber Steinmeier schickte noch Diplomaten mit.
„McDonald’s kann nicht gedeihen ohne McDonnell Douglas“, der der US-Armee ihre Kriegsflugzeuge produziert, beschrieb der US-Ideologe Thomas Friedman Ende der 90er Jahre die Funktionsweise des US-Imperialismus. Die deutsche Bundeswehr kann nur einmarschieren, wo deutsche Exporte und deutscher „Dialog“ ihr den Weg bereitet haben – so grenzte Steinmeier seine Außenpolitik vom „historischen Rucksack“ ab.
Ab dem 18. März hat Steinmeier die Aufgabe, als Staatsoberprediger zu verkünden, warum wir im besten aller Staaten leben. Ein Bundespräsident müsse ein „Mutmacher“, kein „Vereinfacher“ sein, sagte er im November. Steinmeier wird ein Präsident werden, der Ministern, Unternehmern und Generälen den Mut zu Sozialabbau und „Verantwortung“ zuspricht – und die arbeitenden Menschen vor der Vereinfachung warnt, dass man gegen dieses System vielleicht etwas unternehmen könne.