Warum Union auf den Spuren Walter Ulbrichts wandelt

Immer weiter, ganz nach vorn

Ulrich Peters

Wer in Berlin regelmäßig die S-Bahn benutzt, ist Kummer gewohnt: Fast täglich gibt es Zugverspätungen und Ausfälle, die mit (in Endlosschleife wechselnden) Ausflüchten begründet werden, als da wären: Notarzteinsatz, Polizeieinsatz, Stellwerkschaden oder ominöse „Störungen im Betriebsablauf“. Vor einiger Zeit staunte ich dann nicht schlecht: Die Bahn fuhr zwar nicht zuverlässiger, hatte aber plötzlich ihr Portfolio an Ausreden erweitert. Grund für die Verspätungen waren nunmehr „Gegenstände im Gleisbereich“ oder – als Gipfel der Tautologie – eine „vorübergehend verminderte Geschwindigkeit auf der Strecke“. Und tatsächlich, im Angesicht dieser verfeinerten Kundenkommunikation hellte sich meine Laune umgehend auf. Mir kam nämlich schnell die Idee, dass sich das doch demnächst nutzen ließe, wenn Unions Höhenflug enden würde und es mal wieder Misserfolge zu erklären gäbe … Mensch, daraus kann man doch was machen!

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Nun ist Unions Höhenflug aber nicht beendet. Gut, die Saison hat gerade erst begonnen und man kann nicht wissen, wohin die Reise – tabellarisch gesehen – gehen wird. Womöglich fallen die Ergebnisse diesmal deutlich bescheidener aus. Aber ein echter Absturz zeichnet sich einfach nicht ab, weil sich die Mannschaft weiterhin als verschworene Einheit präsentiert und nicht als Ensemble übergeschnappter Individualisten ohne Teamgeist. Außerdem macht sich die gewachsene Qualität des Kaders bemerkbar. Ob’s die Leistungssteigerungen beim Stammpersonal sind (siehe zum Beispiel Stürmer Kevin Behrens) oder das Potential, das Neuverpflichtungen wie die Nationalspieler Robin Gosens und Kevin Volland mitbringen: man sieht auf dem Platz, was sich da entwickelt hat. Nicht davon zu reden, dass Union mit Leonardo Bonucci sogar einen Weltklasse-Verteidiger gewinnen konnte.

So fühlt man sich also sogar für das große Abenteuer Champions League gewappnet. Nebenher: Der Verein hat für die drei Heimspiele der Gruppenphase eine Dauerkarte verkauft, deren Erwerb zwar zehntausende Unioner an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte, weil der Server des Online-Dienstleisters zwischenzeitlich kollabierte, die aber sehr wohlfeil war und zudem edel gestaltet wurde: eine schicke Chipkarte in eleganter Verpackung, fürs spätere Drapieren in der heimischen Glasvitrine ebenso geeignet wie zum Herzeigen vor Kindern und Enkelkindern. Ende gut, alles gut.

Sportlich gesehen ist natürlich nicht auszuschließen, dass Union alle sechs CL-Spiele verliert und sogar mal richtig demontiert wird, etwa von Neapel oder Real Madrid. Aber ich glaube dennoch, dass sie auch in der Königsklasse für Überraschungen gut sind, was eine gewisse Ironie der Geschichte mit sich brächte.

Bei Union, wo die DDR-Nostalgie bekanntlich nicht sehr ausgeprägt ist, war man ja schon immer sehr stolz darauf, dass bei der Vereins-Neugründung 1966 Name und Logo durch die Berlinerinnen und Berliner ausgewählt wurden, die zwischen verschiedenen Vorschlägen zu entscheiden hatten. Fast gar nicht im Bewusstsein der Unioner verankert ist der Umstand, dass diese Befragung damals ganz im Trend der Zeit lag, nämlich den Reformbemühungen der Ulbricht-Zeit, deren Ausdruck auch Volksabstimmungen über wichtige Gesetzeswerke und die neue Verfassung von 1968 waren. (Dieses Votum ist bis heute das einzige Plebiszit über eine Verfassung geblieben, eine wahre Sternstunde der Demokratie in Deutschland!)

Um die besagte Ironie der Geschichte nicht aus dem Blick zu verlieren: Sollte Union nun mit Real Madrid sogar DEN Weltverein schlechthin besiegen, wandelt die Köpenicker Equipe weiterhin auf den Spuren Walter Ulbrichts: sie erreicht dann nämlich das einst erstrebte „Weltniveau“. Setzt es hingegen die erwartbaren Niederlagen, macht das aber auch nichts. Dann geht’s eben einfach weiter, „immer weiter, ganz nach vorn, immer weiter, mit Eisern Union“!

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"Immer weiter, ganz nach vorn", UZ vom 22. September 2023



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