Seit mehr als hundert Tagen dauern die Proteste im Libanon an – gegen Korruption, intransparente Netzwerke und ein System, dessen Machtverteilung über die Zugehörigkeit zu religiösen Gruppen definiert ist. Die neu gebildete Regierung aus Fachleuten verspricht Reformen, die die Krise des Libanon überwinden sollen. Sechs Ministerposten wurden mit Frauen besetzt. Darunter zum ersten Mal eine Frau als Verteidigungsministerin – ein Novum in der arabischen Welt.
Die Proteste gehen weiter – heftige Auseinandersetzungen gab es um die libanesische Zentralbank. Hier konzentrierte sich der Protest in der Forderung: „Sturz der Macht der Banken“. Innerhalb weniger Tage gab es hier 500 Verletzte bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften.
Die aktuelle Krise bedroht den Bestand des Landes. Im letzten Jahrzehnt sind die Realeinkommen gesunken, in den vergangenen Monaten hat die libanesische Währung ein Drittel ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Das hat dazu geführt, dass selbst die Grundversorgung mit Treibstoff, Medikamenten und Getreide nicht mehr gesichert ist. Deshalb sucht die neue Regierung bereits Kredite in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar – dabei gehört der Libanon schon jetzt zu den am stärksten verschuldeten Ländern der Welt. Eine Abwertung des libanesischen Pfund gegenüber dem US-Dollar würde die Situation im Lande weiter verschlechtern.
Hisbollah, die mit ihren Verbündeten in der „Allianz 8. März“ die letzten Parlamentswahlen gewonnen hatte, stellt sich als verantwortliche Kraft dar, die dazu beitragen will, das Land aus der Krise zu führen und hat die Wahl von Hassan Diab zum Ministerpräsidenten möglich gemacht. Angesichts der Tiefe der Krise müsse der Regierung eine angemessene Zeit eingeräumt werden, Ergebnisse zu erzielen. Dies sei besser als eine weitere Destabilisierung des Landes. Dagegen lehnen das westlich orientierte „Future Movement“ um den vorigen Ministerpräsidenten Hariri und andere rechte Parteien Diab ab.
Eine Regierung, die von Hisbollah gestützt wird, kann vom Westen wenig Gegenliebe und kaum finanzielle Hilfe erwarten. Russland und China dagegen haben bereits Hilfe in Höhe von einigen Milliarden US-Dollar versprochen. Doch ob das ausreicht, einen Staatsbankrott und eine Übernahme durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) abzuwenden, ist angesichts der Tiefe der gesellschaftlichen Krise fraglich.
Die Eliten haben sich an den Finanzen des Libanon bereichert. Linke Organisationen lehnen es ab, die Kosten der Krise zu tragen, die aus dieser Selbstbedienung entstanden ist. Sie setzen die Proteste fort und werfen der Regierung Diab vor, sie sei genauso in Hinterzimmer-Verhandlungen ausgehandelt worden wie andere Regierungen zuvor. Es seien zwar Fachleute zu Ministern ernannt worden, doch seien sie keineswegs unabhängig, sondern Teil des Systems.
Der Aufstand gegen die Eliten umfasst die gesamte Gesellschaft, aber die konfessionelle Spaltung des Landes ist nicht überwunden. Ministerpräsident Diab ist Sunnit, doch als Kandidat der schiitischen Hisbollah schlug ihm der stärkste Widerstand in sunnitischen Stadtvierteln entgegen. In manchen der Proteste sah der Sonderkoordinator der UN für den Libanon, Jan Kubich, sogar politische Manöver interessierter Kräfte, um konfessionelle Auseinandersetzungen zu provozieren. Die religiösen Trennlinien geben den Eliten immer noch Spielraum.
Die Proteste gehen weiter. Die Demonstranten und die Kommunistische Partei des Libanon fordern ein Ende der konfessionell festgelegten Parteistruktur und eine Regierung aus unabhängigen Fachleuten.