Wer für die prekären Arbeitsverhältnisse verantwortlich ist

Immer mehr verdienen immer weniger

Von Werner Sarbok

Mit erstaunlichen Tönen steigt das Wirtschaftsministerium in den Wahlkampf ein. „Interne Papiere“ belegen, heißt es in der „Süddeutschen Zeitung“, dass die Einkommensschere in der Bundesrepublik immer weiter auseinandergehe. Die Lohnungleichheit verharre auf einem historisch hohen Niveau. Im Jahr 2015 seien die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent zum Teil deutlich niedriger als 1995. Das bedeute, dass ein Großteil „unserer Bevölkerung nicht mehr voran kommt“, zitiert die Zeitung den Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Matthias Machnig. Und: „Den Kindern geht es auf einmal schlechter als ihren Eltern.“

Wie manche sich noch erinnern, hat im Januar 2005 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vor dem World Economic Forum in Davos erklärt: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, und nicht nur mit den Berichten über die Gegebenheiten.“

Die Agenda 2010 war nicht der erste, aber der folgenschwerste Angriff auf das normale, nicht prekäre Arbeitsverhältnis. Prekäre Arbeitsverhältnisse haben unterschiedliche Formen, die sich auch noch vermengen können. Befristete Arbeitsverträge, Zwangsteilzeit, Leiharbeit und Werkverträge, Scheinselbstständigkeit, Outsourcing, der damit verbundene Verlust der ursprünglichen Betriebszugehörigkeit, der Verlust der damit in der Regel besseren sozialen Standards sowie die massenhaft gestiegenen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sind die wesentlichen Formen prekärer Arbeitsverhältnisse. Zusätzlich wurden mit „Ein-Euro-Jobs“ oder „Bürgerarbeit“ Instrumentarien für die Jobcenter geschaffen, die Erwerbslosen aus der Arbeitslosenstatistik herauszumogeln, obwohl ihnen existenzsichernde Arbeitsplätze vorenthalten werden.

Der Agenda 2010 vorausgegangen war die Einführung der „sachgrundlosen“ Befristungen von Arbeitsverhältnissen. Im Jahr 2015 war schon jedes zwölfte befristet. Besonders betroffen sind jüngere Kolleginnen und Kollegen: In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen sind 17,9 Prozent der Arbeitsverträge befristet.

In vielen Branchen werden vermehrt lediglich Teilzeitarbeitsplätze installiert, obwohl die Beschäftigten selbst gerne mehr Stunden arbeiten würden. Besonders betroffen sind davon Frauen. Viele Arbeitsplätze im Einzelhandel werden nur noch mit der Hälfte der tariflichen Stundenzahl oder noch weniger Stunden angeboten. Auch in Bereichen, wo Fachkräfte fehlen, wie in der Altenpflege, ist das mittlerweile zum Standard geworden.

Fast eine Million Kolleginnen und Kollegen sind als Leiharbeiter in den Betrieben eingesetzt.

Die Zahl von geringfügig entlohnten Beschäftigten („Minijobbbern“) addiert sich nach den letzten vorliegen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom Februar vorigen Jahres auf 7 265 210 der insgesamt 35 974 400 Beschäftigten in Deutschland.

Die Zahl der Aufstocker liegt bei über 1,2 Millionen, davon ist etwa die Hälfte in Vollzeit beschäftigt.

Der Staat subventioniert mit diesem gesamten Paket der prekären Arbeitsverhältnisse laut dem Armutsforscher Christoph Butterwegge ungefähr mit zehn Milliarden Euro pro Jahr Unternehmen, die Dumpinglöhne, also sehr niedrige Löhne zahlen: „Und da reicht eben der Mindestlohn von 8,84 Euro nicht aus. Der ist übrigens der niedrigste in ganz Westeuropa“, stellt Butterwegge fest.

Wenn sich nun, wie eingangs zitiert, das von Brigitte Zypries (SPD) geführte Ministerium in den Wahlkampf einschaltet und eine Debatte um eine „gerechtere Einkommensverteilung“ führen will, ist das nun etwas eigenartig. Alle Elemente, die zu einer Zerschlagung der normalen Arbeitsverhältnisse geführt haben, sind von den jeweiligen Regierungen politisch gewollt worden. Der Haupteffekt, neben einer weiteren Entsolidarisierung der Belegschaften das bundesdeutsche Lohnniveau zu senken, war dabei das erklärte Ziel. Die Vorgaben und Wünsche kamen aus den Verbänden der Industrie und der „Arbeitgeber“. Die SPD-geführten Regierungen haben bei deren Umsetzung maßgeblichen Anteil geleistet.

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"Immer mehr verdienen immer weniger", UZ vom 1. September 2017



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