Klassenjustiz zeigt Verfolgungswillen: MfS-Offizier wegen Mordes verurteilt

Im Zweifel gegen die DDR

In den Medien die spektakuläre Meldung: „Ein 80-jähriger Stasi-Offizier vom Landgericht Berlin nach 50 Jahren wegen Mordes zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt“. Manfred N. soll im Jahr 1974 am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße einen Polen von hinten erschossen haben. Dieser hatte mit einer Bombe (später als Attrappe festgestellt) in der Aktentasche seine Ausreise erzwungen. Die mediale Berichterstattung zum Urteil ist vorwiegend üble Hetze gegen die DDR, besonders gegen die Staatssicherheit.

Das Muster des Verfahrens gegen Manfred N. gleicht dem von hunderten Gerichtsverfahren, die nach der Zwangsvereinigung 1990 gegen DDR-Bürger stattfanden. DDR-Recht sollte angewandt werden, juristische Tricks erfolgten nach bundesdeutschem Recht. Damaliges Ergebnis, einschließlich der Kundschafter: fast 1.000 Verurteilte. Ziel war die Abrechnung mit dem sozialistischen deutschen Friedensstaat. Es musste verurteilt werden. Und es wurde verurteilt.

Deutsche Justiz ist kreativ. So auch im Verfahren gegen Manfred N. Der erste angeblich bewiesene „Stasi-Mord“. Aus „zeitgeschichtlichen Gründen“ gab es erstmalig eine akustische Aufzeichnung eines Verfahrens. Zweifel von vornherein ausgeschlossen.

Da „Totschlag“ als Straftat verjährt war, wurde Mord konstruiert. Das antikommunistische Polen hatte hierzu gute Vorarbeit geleistet. Die deutsche Staatsanwaltschaft klagte an, die 29. Strafkammer des Landgerichts Berlin musste den Beweis für Mord liefern. Sie tat es, indem beim Opfer Arglosigkeit und beim Angeklagten Heimtücke konstruiert wurde. Reine Vermutungen für den Tatbestand. Zeuginnen des Vorganges, vor 50 Jahren Schülerinnen, konnten den Angeklagten nicht als Täter identifizieren. Als Beweis herhalten musste eine Auszeichnung des Angeklagten mit einem „Kampforden“. Angesichts der dürftigen Beweislage hätten zumindest Zweifel zu einem Freispruch führen müssen.

Für begründetes Absehen von einer Anklage beziehungsweise für einen Freispruch hätte allerdings ein Fakt gereicht, der viel schwerer wiegt. Das „Opfer“ war ein Terrorist, der mit einer „Bombe“ in der Aktentasche seine Ausreise erzwingen wollte. Im Bereich des Bahnhofs mit vielen Menschen bestand höchste Gefahr. Die alarmierte Einsatzgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) musste am Tatort sofort die richtige Entscheidung treffen und den Täter ausschalten. Bei einem Schuss mit Verletzung wäre die Gefahr nicht gebannt gewesen. Also blieb nur ein tödlicher Schuss.

Eine ernsthafte Prüfung dieser gegenwärtigen Gefahr, einer Notwehrsituation, war für die Urteilsfindung bedeutungslos. Die Einschätzung des Vorsitzenden Bernd Miczajka, die Gefahr sei gebannt gewesen, beruhte allein auf dessen Vermutung. Diese subjektive Annahme reichte aus, um nach „Überzeugung des Gerichts“ (Paragraf 261 Strafprozessordnung/BRD) Manfred N. wegen Mordes zu verurteilen. Dass nach DDR-Recht „Feststellungen in der Beweisaufnahme“ (Paragraf 222 Strafprozessordnung/DDR) und nicht Vermutungen alleinige Grundlage des Urteils sein mussten, war dem Gericht offenbar egal, wenn nicht sogar unbekannt.

In der Bundesrepublik werden mutmaßliche Terroristen regelmäßig erschossen. Allein in diesem Jahr verloren bisher durch tödliche Polizeischüsse mindestens 14 Menschen ihr Leben. Von Mordanklagen ist nichts bekannt.

Die Berliner Rechtsprechung selbst hätte schließlich das Gericht zu einem anderen Ergebnis führen müssen. 1999 war Rudolf Müller wegen Tötung des DDR-Grenzsoldaten Reinhold Huhn zu einer einjährigen Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf Bewährung, verurteilt worden. Müller hatte den Grenzer ohne Not mit einer Pistole erschossen. In der Revision erkannte der Bundesgerichtshof sogar auf Mord. Die Strafe blieb unverändert.

Im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens hätte es viele Gründe gegeben, nicht anzuklagen, das Verfahren einzustellen, N. freizusprechen oder im Falle einer Verurteilung ein anderes Strafmaß auszusprechen. Dass es hier in Wahrheit aber um ein Verfahren gegen die DDR ging, belegten auch die für eine Entscheidung irrelevanten politischen Bemerkungen des Vorsitzenden. Eine mögliche Revision muss beweisen, dass dieses Unrechtsurteil keinen Bestand hat.

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"Im Zweifel gegen die DDR", UZ vom 25. Oktober 2024



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