Zum Jahrestag der sogenannten syrischen Revolution am 15. März erschien der Roman „Da waren Tage“ von Luna Ali. Scheint der Krieg in und gegen Syrien manchmal vergessen, so ist der Krieg in den Köpfen der Syrer auf beiden Seiten des Krieges fest verankert.
Luna Ali ist meine Cousine. Ihr Roman ist semi-biographisch. Die Hauptfigur heißt Aras. Er ist Jurastudent und Sohn einer Exil-Syrerin. Zwischen Universitätsbibliothek und dem nächsten Plenum, wo es im Jahr 2011 noch Bildungsstreik und Pfingstcamp vorzubereiten gilt, erlebt er den ersten Tag der „syrischen Revolution“ in seinem Heimatland. Genauer gesagt erlebt er ihn nicht, weil es ein ganz normaler Tag in seinem neuen Land, Deutschland, war. Er geht belanglos mit seiner Hündin Gassi.
Jedes der Kapitel behandelt die Erlebnisse der Hauptfigur am Jahrestag der „syrischen Revolution“. Es gelingt dem gewerkschaftlich-studentischen und linkspolitischen Aktivisten an keinem der zehn Jahre, an den Demonstrationen zum Jahrestag, die von seiner Mutter mitorganisiert werden, teilzunehmen. Und das, obwohl die Ereignisse und der Krieg sein Leben von den Füßen auf den Kopf gestellt haben. Immer kommt etwas dazwischen. Hier der müßige Gang zur Ausländerbehörde, um Verwandte aus der Hölle des Krieges nach Deutschland zu retten, dort ein Seminar einer gewerkschaftlichen Stiftung, wo er einer sozialdemokratischen Mitstipendiatin scherzhaft die kommunistische Parole „Wer hat uns verraten?“ zuruft und so das muntere Gespräch über Sinnhaftigkeit, SPD zu wählen, mit allgemeinem Schweigen ungewollt beendet.
Wer „Da waren Tage“ liest, wird einiges zum Schmunzeln über die vielen Anekdoten haben. Dem modern-realistischen Stil, in dem die kleinsten Details aus der Wohnung der Mutter beschrieben werden oder die Lustlosigkeit der Hauptfigur im Bett mit seiner Freundin nach einem niederschmetternden Alltag, steht ein stumpfes Gefühl des Fern-Traumas gegenüber. Den Krieg nicht selbst vor Ort zu erleben, aber die Gräuel des Krieges, die einem das Blut gefrieren lassen, auf dem Handy, in den sozialen Medien oder durch Interaktion mit syrischen Flüchtlingen anzuschauen, ist dieses Fern-Trauma.
Die echten traumatischen Belastungen aus der Ferne führen zu einer Identitätskrise der Hauptfigur. Immer wieder steht das Verhältnis zu seiner Herkunft im Mittelpunkt, der Syrer mit kurdischem Vater und seiner kommunistischen Vergangenheit, seine Integration in Deutschland als aufstrebender Arbeitsrechtsanwalt in der Gewerkschaft, der sich nach seiner Einbürgerung nicht vorstellen könnte, jemals wieder die Ausländerbehörde zu betreten. In diesem Wirren der Identitäten siegt unverschuldet der bürgerliche Individualismus.
Den Krieg in Syrien als ein Moment der nationalen Identitätsstiftung auf beiden Seiten des Krieges, pro und contra Assad, im Inland und im Ausland, erlebt Aras als Einzelkämpfer. Dem modernen Realismus der Autorin gelingt es nicht, den Schritt zum sozialistischen Realismus zu gehen, denn das kämpfende Kollektiv der Arbeiterbewegung, der Aras angehörte, war nicht mit ihm auf den Gängen der Ausländerbehörde und bei seinen individuellen Kämpfen. Er war auf individuelle Lösungswege angewiesen. In dem Wirren der Identitäten ist Aras weder Syrer noch Deutscher und zeitgleich doch Deutscher und Syrer in einem. In dem Wirren der Identitäten entschied er sich für die Identität als konsequenter Demokrat, der nach seinem Studium Seenotretter im Mittelmeer unterstützt und der eine soziale Ader beibehalten hat. In dem Wirren der Identitäten ist Aras subjektiv nicht gescheitert. Objektiv war es die Schwäche unserer deutschen Arbeiterbewegung, die ihm und vielen anderen Menschen auf der Suche nach einer Identität keine kontinuierliche Identitätsstiftung verleiht, sondern sie zuhauf an Grundgesetzdemokraten verliert.
Als Nicht-Literaturkritiker scheint mir der Roman meiner Cousine Luna Ali vor der politischen Aufgabe, die aktuell sprießenden identitätspolitischen Bewegungen anzubieten – mit einer grundsätzlich antifaschistisch-demokratischen Haltung als individueller Lösung für die kapitalistischen Widersprüche. Es geht aber um den Aufbau einer kämpferischen Arbeiterbewegung.
Luna Ali
Da waren Tage
S. Fischer Verlag, 304 Seiten, 24 Euro