Ein (an sich schon pseudowissenschaftliches) Standardargument gegen die revolutionäre marxistische Partei (und auch für die Verteufelung frühsozialistischer Staaten auf Grund der Führungsrolle solcher Parteien) ist die geschichtsfälschende Behauptung, Lenin habe die (den konkreten historischen Bedingungen geschuldete) enge, zentralistische, konspirative Organisation von Berufsrevolutionären bis 1905 als den für alle Zeiten und Länder verbindlichen Parteityp verfochten. Es ist schon ein völlig ahistorisches Herangehen, nicht zu berücksichtigen, dass die von Lenin in „Was tun?“, auf dem II. Parteitag der SDAPR und in seiner Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ vorgetragenen Gedanken einfach der aufgezwungenen Illegalität, dem Wirken des zaristischen Polizei- und Justizapparats Rechnung trugen, tragen mussten.
Aber einfach unredlich ist es, zu ignorieren, dass Lenin schon kurze Zeit später, während des revolutionären Aufschwungs 1905, entsprechend den veränderten Kampfbedingungen eine jähe Wende vollzog und sein Parteikonzept ganz wesentlich veränderte. Das widerspiegelte vor allem sein grundsätzlicher Artikel „Über die Reorganisation der Partei“ vom November 1905.
Er begann ihn mit der Feststellung: „Die Bedingungen für die Tätigkeit unserer Partei verändern sich von Grund aus.“ Er verwies auf die erkämpfte Versammlungs-, Koalitions- und Pressefreiheit, warnte vor Illusionen, aber betonte, dass es „unbedingt notwendig“ sei, „die jetzige, verhältnismäßig größere Bewegungsfreiheit weitestgehend auszunutzen. … neben dem konspirativen Apparat immer mehr neue, legale und halblegale, Parteiorganisationen (und sich an die Partei anlehnende Organisationen) zu schaffen.“ „Man muss sich schnellstens auf neue Art organisieren …“ Erforderlich sei nun die maximale Entfaltung der innerparteilichen Demokratie. „Unsere Partei ist zu lange in der Illegalität gewesen. Sie ist in den letzten Jahren darin fast erstickt …“; sie tue jetzt den „entscheidenden Schritt zur vollen Verwirklichung des demokratischen Prinzips in unserer Parteiorganisation“. Das heiße vor allem, „sofort, unverzüglich beginnen, das Prinzip der Wählbarkeit anzuwenden“. Schließlich: „Um die Organisation auf eine neue Grundlage zu stellen, ist ein neuer Parteitag unerlässlich“ Lenin beschränkte sich also nicht auf die Realisierung der genannten Umgestaltungen durch das bestehende, von den Bolschewiki dominierte ZK, sondern hielt es für notwendig, sie auf einer breiten demokratischen Basis zu vollziehen, auch wenn dies die bolschewistische Dominanz in Frage stellen würde. Dies alles charakterisierte Lenin als „die notwendige Reform der Partei“.
An diesem Wendepunkt des Klassenkampfes und der Parteientwicklung zeigte sich zum ersten Mal mit aller Deutlichkeit, dass Lenins Herangehen an das Problem der Parteiorganisation niemals doktrinär, sondern immer historisch-konkret war und von den objektiven Bedingungen und Erfordernissen, nicht subjektivem Kalkül ausging.
Bolschewistische Strömung in einheitlicher Partei
Das vom III. Parteitag der SDAPR (April/Mai 1905) gewählte, aus Bolschewiki bestehende ZK berief den IV. (Vereinigungs-)Parteitag (April 1906) ein, der ein ZK wählte, in dem die Bolschewiki in der Minderheit waren. In dem vom V. Parteitag (April/Mai 1907) gewählten ZK hatten die Bolschewiki und mit ihnen kooperierende Kräfte wieder die Mehrheit. Von 1905/1906 bis 1911/1912 wirkten die Bolschewiki also in einer einheitlichen SDAPR mit unterschiedlichen Strömungen, wobei sie mit Ausnahme des relativ kurzen Zeitraumes von April 1906 bis April 1907 im ZK dominierten. Sie kooperierten in der Regel mit der lettischen und der polnischen Sozialdemokratie, aber auch mit Teilen des jüdischen „Bund“ und mit Plechanows „parteitreuen Menschewiki“. Sie setzten sich ideologisch mit dem Reformismus der Menschewiki auseinander, aber bekämpften mit Teilen der Menschewiki das opportunistische Liquidatorentum. Immer verteidigten sie die Einheit der SDAPR gegen opportunistische Spalter: ausgegrenzt wurden nur die Liquidatoren. Niemals warfen Lenin und die Bolschewiki die Frage einer Spaltung der SDAPR auf! (…)
Im Stalinschen „Kurzen Lehrgang“ wurde dieses Wirken Lenins und der Bolschewiki für die Einheit und Aktionsfähigkeit der SDAPR sehr unterbelichtet und das Schwergewicht auf die „Vertreibung der Opportunisten aus der Partei“ gelegt. (…)
„Partei von neuem Typus“
Ähnlich wie der revolutionäre Aufschwung 1905 brachte auch die russische Februarrevolution 1917 eine neue Wendung in der politisch-organisatorischen Entwicklung der Partei. Noch aus der Schweizer Emigration charakterisierte Lenin in einem Brief an Alexandra Kollontai vom 17. März die neue Situation und leitete daraus die nächsten Aufgaben ab. Es gelte, „nicht das geringste Vertrauen/nicht die geringste Unterstützung für die neue Regierung“ zuzulassen, sondern alles zu tun, „um die Eroberung der Macht durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten vorzubereiten“. Das bedeute „bewaffnetes Abwarten, bewaffnete Vorbereitung einer breiteren Basis für eine höhere Etappe“. Und das erfordere, „die Arbeit zu erweitern, die Massen zu organisieren, neue Schichten, die rückständigen, ländlichen Schichten, die Dienstboten, zu erwecken … Neue Initiative wecken, neue Organisationen in allen Schichten schaffen“, also „systematische Arbeit für eine Partei von neuem Typus … zu leisten.“ Diese „Partei von neuem Typus“ – das war die Partei, die in wenigen Monaten zu einer Massenpartei mit Hunderttausenden von Mitgliedern anwuchs, die in breitester Öffentlichkeit wirkte, die Mehrheit in den Sowjets gewann und – nur acht Monate nach dem Sturz des Zarismus – die Errichtung der Sowjetmacht bewirkte.
Diese zielklare, organisiert handelnde, aktive, sich auf die Massen orientierende Partei zog wie ein Magnet bisher zentristische, aber sich nach links entwickelnde politische Gruppierungen – d. h. alle „wesensverwandten Elemente“ (so Lenin 1909) – an. Die wichtigste von ihnen waren die von Leo Trotzki geführten „Meshrayonzi“, die vom VI. Parteitag (August 1917) in die SDAPR(B) aufgenommen wurden. Hier erwies sich wieder Lenins Fähigkeit, nicht nur politische Prozesse, sondern auch Persönlichkeiten in ihrer Entwicklung zu sehen. Noch in seinem Brief vom 17. März hatte er ganz besonders vor „schwankenden Elementen, wie beispielsweise … Trotzki und Co.“ gewarnt; nun, im Herbst 1917, bewies Trotzki als Vorsitzender des Petrograder Sowjets und seines Revolutionären Militärkomitees, dass Lenin zu Recht sein Urteil revidiert hatte.
Auch in seiner Schrift gegen den „linken Radikalismus“ (1920) trifft Lenin ganz wesentliche Aussagen zur Parteiproblematik im engeren Sinne, zum Wesen der Partei. Ich möchte nur zwei hervorheben.
Lenin stellt die Frage: „Wodurch wird die Disziplin der revolutionären Partei des Proletariats aufrechterhalten? wodurch wird sie kontrolliert? wodurch gestärkt?“ Und er antwortet: „Erstens durch das Klassenbewusstsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus.
Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nichtproletarischen werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja … sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen.
Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, … ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, dass sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen. […]
Ohne diese Bedingungen werden die Versuche, eine Disziplin zu schaffen, unweigerlich zu einer Fiktion, zu einer Phrase, zu einer Farce.“
Als die entscheidenden Grundlagen für die Einheit, Geschlossenheit und Disziplin der Partei werden ihre richtige, von den Massen verstandene politische Linie und ihre enge Verbindung mit den Massen charakterisiert. Kein Wort von organisatorischen Festlegungen und Maßregeln! Natürlich hat Lenin sie nicht vergessen. Aber es ging ihm offensichtlich darum, mit aller Deutlichkeit auf das Wesentliche, das Erstrangige, das Ausschlaggebende hinzulenken. (…)
Wesentliches über Lenins Auffassung von einer revolutionären marxistischen Partei besagt auch seine Einschätzung, „dass die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie der Partei am nächsten kam, wie sie das revolutionäre Proletariat braucht, um siegen zu können“. Und dies auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Zentrismus, als Lenin die Sorge umtrieb, unverbesserliche zentristische Politiker könnten, sich an die bisher ihnen folgenden Massen klammernd, in die Kommunistische Internationale und deren Sektionen gelangen und sie schwächen. Offensichtlich sah Lenin die kommunistische Partei als eine Massenpartei mit effektiven Strukturen, ihre Angelegenheiten demokratisch regelnd, in zweckmäßiger Kooperation mit Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen, mit enger Verbindung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit.
Für „innerparteiliche Arbeiterdemokratie“
Die letzte einschneidende Wendung in der innerparteilichen Entwicklung der KPR(B), eine ganz wesentliche Präzisierung ihres ideologisch-politischen und organisatorischen Profils brachte der X. Parteitag (März 1921). Er war (…) konfrontiert mit der kompliziertesten Situation seit Errichtung der Sowjetmacht: eine wirtschaftliche und politische Krise, die Gefahr eines Bruchs des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der werktätigen Bauernschaft, sehr negative soziale und ideologische Auswirkungen des Bürgerkriegselends und der Wirtschaftskrise auf die Arbeiterklasse, die sich in der Kommunistischen Partei in Fraktionsbildungen und einer anarcho-syndikalistischen Abweichung widerspiegelten. Unter diesen Bedingungen bedeutete eine Gefährdung der Einheit der Partei auch eine Gefährdung der Arbeiter- und-Bauern-Macht, in dieser Ausnahmesituation fasste der Parteitag den bekannten, von Lenin formulierten Beschluss über die Einheit der Partei, der fraktionelle Gruppierungen untersagte.
Im Interesse einer Verständigung wurde im Beschluss aber zugleich festgelegt, „dass hinsichtlich der Fragen, welche die besondere Aufmerksamkeit, z. B. der Gruppe der sogenannten Arbeiteropposition, auf sich gelenkt haben – Säuberung der Partei von nichtproletarischen und unzuverlässigen Elementen, Bekämpfung des Bürokratismus, Entfaltung des Demokratismus und der Initiative der Arbeiter usw. –, alle wie immer gearteten sachlichen Vorschläge mit der größten Aufmerksamkeit geprüft und in der praktischen Arbeit erprobt werden müssen.“ Ebenso wurden zwei Vertreter der „Arbeiteropposition“ in das ZK gewählt.
Bei der historiographischen Behandlung dieser Problematik wurde aber kaum berücksichtigt, dass der Parteitag ein für die Parteientwicklung und Parteitheorie weit gewichtigeres Dokument angenommen hat – die Resolution zu den Fragen des Parteiaufbaus. Ihr prinzipieller, methodologisch bedeutsamer Ausgangspunkt lautete: „1. Die Partei des revolutionären Marxismus lehnt das Suchen nach einer absolut richtigen, für alle Stufen des revolutionären Prozesses tauglichen Organisationsform der Partei und gleichermaßen das Suchen nach solchen Arbeitsmethoden prinzipiell ab. Im Gegenteil, die Organisationsform und die Arbeitsmethoden werden ganz und gar von den Besonderheiten der gegebenen konkreten historischen Situation und von den Aufgaben bestimmt, die sich unmittelbar aus dieser Situation ergeben.
2. Von diesem Standpunkt aus ist es klar, dass sich jede Organisationsform und die entsprechenden Arbeitsmethoden bei einer Veränderung der objektiven Entwicklungsbedingungen der Revolution aus Formen der Entwicklung der Parteiorganisation in Fesseln dieser Entwicklung verwandeln können…“ (Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK, 1898–1954, Bd. III. Hrsg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1957. S. 166.)
Die Resolution analysierte äußerst kritisch die negativen Veränderungen, welche die außerordentlichen Bedingungen und Anforderungen des Interventions- und Bürgerkrieges in der Arbeitsweise der Partei und im Parteileben bewirkt hatten, machte die großen Gefahren deutlich, die daraus für die Stellung der Partei in der sowjetischen Gesellschaft erwuchsen, und zog Schlussfolgerungen für die Festigung der Verbindung mit den Massen und die Entwicklung der innerparteilichen Demokratie.
Die Resolution schätzte ein, dass die Bedingungen des Bürgerkrieges zu „einem extremen organisatorischen Zentralismus und … der Einschränkung der kollektiven Organe der Parteiorganisation“ gezwungen hätten. Dabei „entwickelte die Zentralisierung die Tendenz, sich in Bürokratisierung umzuwandeln und sich von den Massen loszulösen“; sie führte „zur Aufblähung des bürokratischen Apparates und schuf die Tendenz zu seiner Isolierung.“
Jetzt gehe es darum, eine „innerparteiliche Arbeiterdemokratie“ zu verwirklichen, „die allen Parteimitgliedern, auch den zurückgebliebensten, die aktive Teilnahme am Parteileben, an der Erörterung aller Fragen, die vor der Partei stehen, an der Lösung dieser Fragen und auch die aktive Teilnahme am Parteiaufbau gewährleistet.“ Sie „schließt jegliches Ernennen als System aus, sie kommt zum Ausdruck in der breit angewandten Wählbarkeit aller Funktionen von unten bis oben, in ihrer Pflicht der Rechenschaftslegung, darin, dass sie unter ständiger Kontrolle stehen usw. Die Arbeitsmethoden sind vor allem die Methoden der umfassenden Erörterung aller wichtigen Fragen, sind Diskussionen über diese Fragen bei voller Freiheit der innerparteilichen Kritik, sind die Methoden der kollektiven Ausarbeitung der Beschlüsse. …“ Verwirklicht werden müsse „die umfassende Erörterung aller wichtigen Fragen des Lebens der gesamten Partei, des allgemeinen politischen und örtlichen Lebens auf den Vollversammlungen der Parteimitglieder bis zu den Parteizellen …“
Damit war eine prinzipielle Orientierung für das Wirken der Kommunistischen Partei und ihre innere Verfassung unter den Bedingungen der Übergangsperiode zum Sozialismus und darüber hinaus gegeben. Dass sie nicht unumstritten, nicht unverrückbar war, zeigt ein Vergleich mit Aussagen J. Stalins zur gleichen Problematik.
Im Entwurf zu einer Broschüre vom Juli 1921 charakterisierte er die Rolle der Kommunistischen Partei im Sowjetstaat „als eine Art Schwertträgerorden“, als „mächtigen Orden“ und als „das Kommandeurkorps“ der Arbeiterklasse. (…) Seine Betrachtung der Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen als simple „Transmissionsriemen“ der Kommunistischen Partei (Über die Grundlagen des Leninismus, 1924) vereinfachte die realen Verhältnisse und leistete sektiererischem Herangehen Vorschub. Auch seine Empfehlungen für das Führen innerparteilicher Auseinandersetzungen unterscheiden sich erheblich von Lenins Ringen um die Einheit der Partei.
Der inkonsequente, einseitige und formale Umgang mit den prinzipiellen Entscheidungen des X. Parteitages über die Partei und die praktische Verwirklichung ihrer Rolle, wie er sich nach Lenins Ausscheiden aus der Parteiführung nach und nach durchsetzte, hat wesentlich zur stalinistischen Deformation der KPdSU(B), zum Abgehen vom Leninschen Kurs und zum Niedergang der Sowjetgesellschaft beigetragen. (…)