Frage: Silvia, du bist wohl eine der bekanntesten Betroffenen der „Berufsverbote“. Daher freut es mich, mit dir über das Thema reden zu können. Bevor wir auf die genauen Umstände deines Falles eingehen, erzähl mir doch mal ganz kurz, wie du 1972 die Verabschiedung des „Radikalenerlasses“ eingeschätzt hast. Was du in dem Moment gedacht hast.
Silvia Gingold: Mir war bewusst, dass mit dem „Radikalenerlass“ in erster Linie Marxisten, Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen getroffen werden sollten. Dass es jedoch ein solches Ausmaß an massenhafter Überwachung und Bespitzelung von Menschen annehmen würde, die irgendwann einmal durch ihre kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Missständen aufgefallen sind, hat dann doch meine Vorstellungskraft übertroffen.
Frage: Und wie lief es bei dir ab? Wie erfuhrst du, dass du Betroffene einer „Regelanfrage“ bist?
Silvia Gingold: Im Juli 1974, unmittelbar nachdem ich mein 2. Staatsexamen nach dreijährigem Referendariat und Unterrichtstätigkeit an einer Gesamtschule im nordhessischen Neukirchen bestanden hatte, bekam ich die Aufforderung, zu einem „persönlichen Gespräch“ ins Regierungspräsidium Kassel zu kommen. Sofort war mir klar, dass es sich um eine Anhörung handeln musste.
Frage: Wussten die Geheimdienste schon vor deiner Bewerbung von deiner politischen Arbeit?
Silvia Gingold: Als ich mich 1971 nach meinem 1. Staatsexamen für das Referendariat an der Gesamtschule bewarb, gab es den „Radikalenerlass“ und die Regelanfrage beim Verfassungsschutz noch nicht. Deshalb konnte ich zunächst meine Ausbildung als Lehrerin beginnen und auch abschließen. Das heißt jedoch nicht, dass der Geheimdienst nichts von mir wusste. Wie sich später bei meiner Anhörung herausstellte, wurde ich seit meinem 17. Lebensjahr bespitzelt. Damals waren bereits meine kommunistischen Eltern, die im französischen Exil im Widerstand gegen Hitler standen, im Visier des Geheimdienstes. Wie wir später erfuhren, beobachtete unter anderem ein Nachbar im Auftrag des „Verfassungsschutzes“, wer bei uns ein- und ausging und notierte Autokennzeichen von unseren Besuchern. Während meiner Anhörung legte man mir „Erkenntnisse“ des Verfassungsschutzes vor, aufgelistet auf vier Seiten mit präzisen Zeit- und Ortsangaben, von denen ich hier exemplarisch nur einige zitieren will:
19. Februar 1965: Teilnehmerin an einer nicht genehmigten Demonstration gegen die amerikanische Politik in Vietnam vor dem US-Konsulat in Frankfurt/Main,
7. bis 9. April 1967: Teilnehmerin an der „Wissenschaftlichen Tagung“ der „Marxistischen Blätter“ in Frankfurt/Main,
27./28. Januar 1968: Unterzeichnerin des „Aufrufs zur Gründung einer revolutionären sozialistischen Jugendorganisation“, der SDAJ, und Mitglied des Gründungsausschusses,
Teilnehmerin an den 9. Weltjugendfestspielen in Sofa und so weiter.
Ein Jahr später, 1975, bekam ich ein Schreiben des Hessischen Kultusministers, in dem er mir mitteilte, die Überprüfung habe ergeben, dass die „Zweifel an meiner Verfassungstreuer“ nicht ausgeräumt seien, deshalb sei ich mit Ende des Schuljahres am 31. Juli 1975 aus dem Hessischen Schuldienst entlassen. Ich war damals als Angestellte beschäftigt.
Frage: Welche Auswirkungen hatte das Berufsverbot für dich unmittelbar?
Silvia Gingold: Auch wenn ich durch andere Berufsverbotsfälle schon „vorgewarnt“ war, hat es mich doch sehr getroffen. Immerhin hatte ich vier Jahre lang unterrichtet, gute Beziehungen zu Schülerinnen und Schülern, wertvolle Zusammenarbeit mit Kolleginnen, Kollegen und Eltern aufbauen können, war an der Entwicklung von Unterrichtsprojekten beteiligt. Die Arbeit hat mich sehr erfüllt, umso mehr hat mich dieses Berufsverbot erschüttert.
Frage: Und wie ging es danach weiter?
Silvia Gingold: Zunächst gab es große Empörung unter meinen Schülerinnen und Schülern, deren Eltern sowie Kolleginnen und Kollegen, die vielfach gegen meine Entlassung protestierten. Im Landkreis meiner Schule, dem Schwalm-Eder-Kreis, wurde ein Komitee gegen mein Berufsverbot gegründet und mit zahlreichen Veranstaltungen, Flugblättern, Demonstrationen meine Wiedereinstellung gefordert. Über den Landkreis hinaus wurden in Hessen und im gesamten Bundesgebiet überall dort Komitees gegen Berufsverbote gebildet, wo es konkret Betroffene gab. Es entwickelte sich in unserem Land eine breite demokratische Protestbewegung gegen die Gesinnungsüberprüfung und den Ausschluss von Linken aus dem Öffentlichen Dienst, der als Verfassungsbruch angeprangert wurde.
Der Protest machte nicht an unseren Grenzen Halt. Vor allen Dingen in Frankreich verfolgte man mit Sorge die undemokratische Berufsverbotspraxis. Dort fand „Le Berufsverbot“ als nicht übersetzbare Vokabel Eingang in den Sprachschatz der Medien. In Frankreich reagierte man mit großem Unverständnis auf die Berufsverbote und wies in meinem Fall darauf hin, dass meine Eltern während der deutschen Besatzung an der Seite der Résistance gegen die Nazis gekämpft hatten und nun junge Deutsche, die in der antifaschistischen Tradition des Widerstands standen, wegen ihres Engagements gegen Neonazis, Rassismus und Krieg Berufsverbot bekamen. Am 13. März 1976 organisierte die „Internationale Föderation der Widerstandskämpfer gegen den Faschismus“ eine große Demonstration in Straßburg, auf der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und der BRD einen Appell an das Europaparlament richteten, in dem sie die Abschaffung der Berufsverbote forderten.
Die vielen Proteste im In- und Ausland setzten die sozialdemokratisch geführte Regierung unter Druck und trugen dazu bei, dass Willy Brandt 1976 die durch den „Radikalenerlass“ ausgelöste Praxis als „Irrtum“ eingestehen musste, die der Demokratie mehr Schaden als Nutzen eingebracht habe. Trotz meines Gerichtsurteils vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof, das mir aufgrund meiner Mitgliedschaft in der DKP eine verfassungsfeindliche Prognose ausstellte, musste ich als Angestellte wieder eingestellt werden, da der öffentliche Druck zu stark war.
Die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) hat zum 50. Jahrestag der Berufsverbote in der BRD eine Broschüre herausgebracht, aus der wir die Interviews mit Silvia Gingold und Michael Csaszkóczy entnommen haben. Das Heft gibt es zum Preis von 1 Euro bei info@sdaj-netz.de.