Glaubt man der medialen Berichterstattung, dann hat in Deutschland „eine neue Ära heftigerer Streiks“ begonnen. Von „französischen Verhältnissen“ ist gar die Rede. Aus den Statistiken für das Jahr 2022, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung nun vorgelegt hat, lässt sich dies jedoch noch nicht belegen. Das gewerkschaftsnahe WSI registrierte im vergangenen Jahr insgesamt 225 Arbeitskämpfe. In deren Verlauf gab es mehrere tausend Arbeitsniederlegungen mit insgesamt 930.000 Streikenden. Rechnerisch fielen dadurch 674.000 Arbeitstage aus. Damit bewege sich das Arbeitskampfvolumen in Deutschland im internationalen Vergleich lediglich im unteren Mittelfeld, so das WSI in seiner „Arbeitskampfbilanz 2022“.
Hinzu kommt, dass es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Arbeitsniederlegungen im vergangenen Jahr ausschließlich um Warnstreiks handelte. Von den in dem Report aufgeführten 225 Arbeitskämpfen waren gerade einmal sieben Erzwingungsstreiks, was einem Anteil von 3 Prozent entspricht.
Der größte Teil der Arbeitskämpfe fand im Rahmen von Auseinandersetzungen um Haus-, Firmen- oder Konzerntarifverträge statt. In vielen Fällen riefen die Gewerkschaften hier zu Streiks auf, um die Kapitalseite überhaupt zum Abschluss eines Tarifvertrages zu bewegen, um so der seit Mitte der 1990er rückläufigen Tarifbindung entgegenzuwirken.
Etwa die Hälfte der Arbeitskämpfe fand im vergangenen Jahr im Dienstleistungssektor statt. Mit etwa 44 Prozent aller Arbeitskämpfe fielen die meisten 2022 durchgeführten Streiks in den Organisationsbereich von ver.di. 32 Prozent der Arbeitskämpfe wurden von der IG Metall organisiert, gefolgt von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) mit 13 Prozent. Gemessen an ihrer Mitgliedszahl ist die NGG damit innerhalb der deutschen Gewerkschaftslandschaft am häufigsten in Arbeitskämpfe involviert. Weitere 7 Prozent der Arbeitskämpfe entfielen auf die übrigen DGB-Gewerkschaften – darunter EVG, GEW, IG BAU und IG BCE – sowie 4 Prozent auf Gewerkschaften außerhalb des DGB wie den Marburger Bund, die Vereinigung Cockpit und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL).
Die Autoren der WSI-Studie verweisen darauf, dass sowohl die Menge der arbeitskampfbedingten Ausfalltage wie auch die Gesamtzahl der Streikenden weniger von der Anzahl der Konflikte, sondern vor allem durch einzelne, große Auseinandersetzungen mit breit angelegten Warnstreikwellen und einer hohen Anzahl beteiligter Personen bestimmt wird. Auch die öffentliche Wahrnehmung von Streiks wird von Arbeitskämpfen im Rahmen von großen Flächentarifvertrags-Auseinandersetzungen geprägt, wie sie im vergangenen Jahr beispielsweise bei den Sozial- und Erziehungsdiensten, bei den Unikliniken in NRW, bei den Seehäfen oder auch in der Metall- und Elektroindustrie stattgefunden haben.
Wie weit man hierzulande von der Intensität der Arbeitskämpfe in Frankreich, Belgien, Griechenland oder aktuell auch Britannien entfernt ist, machen die Zahlen des WSI zu den individuellen Streikerfahrungen der Lohnabhängigen deutlich. Gerade einmal 17 Prozent aller Erwerbstätigen haben in Deutschland im Laufe ihres Arbeitslebens schon einmal im Rahmen eines Arbeitskampfes ihre Arbeit niedergelegt. Selbst unter den Gewerkschaftsmitgliedern ist es nur jeder Zweite.
Relativ hohe Warnstreikbeteiligungen bei Post, Bahn und Öffentlichem Dienst bereits in den ersten Monaten des Jahres 2023 deuten darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen in diesem Jahr noch einmal zunehmen könnte. Wenn die durch Krieg und Krise bedingten Reallohnverluste sich nicht weiter fortsetzen sollen, ist entschlossener Widerstand auch bitter nötig.