Nordamerika in nicht allzu ferner Zukunft. Die USA sind nach einer Klima- nebst Nuklearkatastrophe und daraus folgendem Bürgerkrieg zerfallen. Auf einem Großteil des ehemaligen Territoriums haben christliche Fundamentalisten den Gottesstaat „Gilead“ errichtet, der das Weltbild radikaler Evangelikaler im amerikanischen Puritanismus exekutiert.
June wird auf der Flucht vor dem Regime zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter Hannah geschnappt, von ihr getrennt, zur Magd gemacht. Fortan ist sie „Desfred“, die Magd des Kommandanten Fred. Denn der Fortbestand der Menschheit ist gefährdet, die Fruchtbarkeit der Männer und Frauen gemindert. Die Gesellschaft von Gilead rechtfertigt Polygamie mit Verweis auf die alttestamentarische Figur der Rahel, die ihrem Mann ihre Magd Bilha zum Beischlaf gab, denn sie selbst konnte keine Kinder bekommen. Und nimmt den Bibeltext wörtlich. Die unfruchtbaren Frauen werden zu „Marthas“, Haussklavinnen, renitente zu Arbeitstieren und die privilegierten zu ebenso rechtlosen Ehefrauen. Eine Ausnahme machen die „Tanten“, KZ-Wärterinnen ähnliche Aufseherinnen, die alle Frauenbereiche kontrollieren und als erstes die ankommenden Frauen auf ihre jeweilige Rolle vorbereiten. Tante Lydia ist die oberste Vollstreckerinnen der männlichen Macht.
1985 lässt Margaret Atwood June/Desfred in „Der Report der Magd“ über ihr Leben in Gilead berichten. Das Ende blieb offen. Sie übergab ihre in Gilead geborene Tochter kanadischen Menschenschmugglern, um sie in Sicherheit zu bringen. Damals war der Roman allenfalls ein Geheimtipp bei Feministinnen. Die Wahl Donald Trumps machte ihn zum Bestseller und eine Netflix-Serie zum Kultbuch. Weltweit demonstrieren Frauen für ihr Recht auf Abtreibung in der Uniform der Mägde: Rotes Kleid, weiße Flügelhaube.
Die 2017 erschienene Fortsetzung „Die Zeuginnen“ – die jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt – macht einen Sprung von 15 Jahren. Dieselbe Clique alter weißer Männer beherrscht Gilead immer noch. Doch es gibt Zerfallserscheinungen. Eine Säuberungsaktion jagt die nächste, die Widerstandsgruppe Mayday wird auch in Gilead immer stärker und verhilft zur Flucht nach Kanada.
Aussageprotokolle und Tagebucheinträge dreier Frauen geben uns Einblicke in das System eines auf die totale Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen sowie der Verelendung der assimilierten Bürger aufgebauten Staates. Eines zutiefst faschistoiden Staates unter dem Deckmantel tiefster Gottesgläubigkeit. Tante Lydia, einst Familienrichterin, war eine der ersten Frauen, die nach Gilead verschleppt wurden. Wie andere entschloss sie sich zu überleben, indem sie half, die Diktatur der „Söhne Jacobs“ durchzusetzen. Als Tante, die nur dem Obersten Kommandanten rechenschaftspflichtig ist, erlässt sie Gesetze, erfindet Uniformen, Lieder, Slogans, Namen. Eine euphemistische Umgangssprache, derer sich alle bedienen müssen, bestialische Rituale im Namen eines höheren Wesens. Kurz: sie baut das äußerliche Gerüst des Systems auf, bringt es ans Laufen. Mit Erfolg. Jetzt ist sie eine der mächtigsten Frauen Gileads, weiß um die Leiche in den Kellern der Herrschenden und bereitet ihre Rache vor. Sie schreibt ein geheimes Tagebuch, das den Sturz des Terrorregimes auslösen soll.
Atwood zeigt in Lydias Bericht, mit welcher Brutalität und Perfidie reaktionäre Putschisten vorgehen, um ihre Ziele durchzusetzen und die ihnen Ausgelieferten gefügig zu machen. Und sie nennt die Strategien, die es dazu braucht: Unter Folter erreichte Kollaboration von Teilen der akademischen Elite, die Vergabe von Privilegien, frühkindliche Erziehung, Gewalt.
Agnes, privilegierte Kommandantentochter, erfährt, dass sie das Kind einer Magd ist, soll mit einem viel älteren hochrangigen Mann verheiratet werden und gelangt mit Hilfe von Tante Lydia in das Haus Ardua. Dort werden spätere Tanten ausgebildet. Bis dahin waren die Restriktionen, denen Frauen – von der Wiege bis zur Bahre – unterworfen waren, völlig normal und nachvollziehbar für sie. Sie war ein fröhliches Kind, und solange ihre „Mutter“ lebte, fehlte es ihr nicht an Zuwendung. Sie zeichnet zunächst also ein durchaus positives Bild von Gilead. Als angehende Tante – sie sind die einzigen Frauen, die in Gilead lesen dürfen – erhält sie Zugang zur Bibliothek. Dort findet sie das Tagebuch einer Tante. Ihr Weltbild beginnt zu wanken.
Daisy lebt als völlig normaler Teenager in Kanada und ist allenfalls von der übermäßigen Ängstlichkeit ihrer Mutter genervt. Dann kommen ihre Eltern bei einem Bombenattentat um. Mitglieder von „Mayday“ erklären ihr, sie sei das Kind einer Gilead-Magd, die sie als Säugling nach Kanada schmuggeln ließ. Und dass sie jetzt in Gefahr schwebe, da Gilead-Agenten sie offensichtlich aufgespürt hätten. Man ahnt sehr bald, Daisy ist „die kleine Nicole“, jenes Baby von Desfred, das aus Gilead gerettet werden konnte und dort nun eine Art Märtyrerstatus genießt. Nach einigen Fluchtstationen entschließt sich Daisy, nach Gilead zu gehen, um das System von innen zu bekämpfen. Sie trifft in einer völlig fremden, surrealen Welt ein, findet eine Schwester, von der sie nicht wusste, dass es sie gibt, und auf Tante Lydia. Der Angriff auf den Gottesstaat kann beginnen.
Atwood schafft ein literarisches Puzzle, das auch mit Versatzstücken aus Thrillern spielt, temporeich und spannend. Und sie zeigt exemplarisch auf, wohin das Erstarken reaktionärster Kräfte führt, bis zum konsequenten Ende. Das ist heute aktueller denn je. „Die Zeuginnen“ kommt so wesentlich unterhaltender daher als der eher gemächlich erzählte „Report der Magd“. Dadurch erreicht der Roman unter den Dystopien des 20. Jahrhunderts eine hohe, leider viel zu seltene literarische Qualität. Künftig werden „ Der Report der Magd“ und „Die Zeuginnen“ in einem Atemzug mit George Orwells „1984“ und mit Aldous Huxleys „Schöner Neuer Welt“ zu nennen sein.
Margaret Atwood Die Zeuginnen übersetzt von Monika Baark Piper Verlag 2020, kt.,571 Seiten, 12 Euro Berlin Verlag geb., 576 Seiten, 25 Euro