Die EU ist in der Krise. Ökonomisch. Politisch. Und das nicht erst, seitdem der Brexit immer näher rückt. Zunehmend mehr Menschen in den Mitgliedsländern nehmen wahr, dass ihre Interessen in Brüssel beziehungsweise Straßburg höchstens am Rande zählen. Bei den EU-Wahlen im Jahr 2014 gab es – europaweit – eine Wahlbeteiligung von nur 42,6 Prozent. Zwar gibt es durchaus Beschlüsse der EU zu Bildung, Gesundheit, Umwelt und so weiter, die einer Mehrheit zugute kommen könnten, doch die werden oft nicht oder nur zögerlich in nationales Recht umgesetzt. Von der EU-Politik profitieren zuallererst die Konzerne, Banken und Superreichen. Kapitalinteressen haben Vorrang. Im November 2018 warnte zum Beispiel der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, in der „Wirtschafts-Woche“ scharf vor der Novellierung zweier EU-Richtlinien zum Unternehmensrecht, die die Verlagerung von Firmensitzen deutlich vereinfachen und Missbrauch erleichtern würden: „Die Richtlinienentwürfe bergen immense Gefahren für Beschäftigte und für Verbraucher – vom Abbau wichtiger Informations- und Mitbestimmungsrechte bis zur weiteren Gründung dubioser Briefkastenfirmen.“ („Wirtschafts-Woche“, 18. 11. 2018) Immer wieder wurde in der Vergangenheit auch versucht, das Streikrecht weiter einzuschränken.
Die EU-Politik hat zudem dazu geführt, dass die Ungleichheit in den EU-Mitgliedstaaten und zwischen ihnen zugenommen hat. Die Austeritätspolitik gegenüber Griechenland, aber auch Portugal und Spanien, hat – vor allem durch den Druck der ökonomisch stärksten EU-Staaten wie Deutschland – zur Verarmung breiter Schichten geführt. In der Flüchtlingspolitik gibt es keine gemeinsame Politik mit einem gemeinschaftlichen Verteilungsschlüssel für die Zuflucht Suchenden. In der Außen- und Sicherheitspolitik hat sich die EU auf Abschottung nach außen, zunehmende Kontrolle und Repression im Inneren, auf Militarisierung, Großmachtstreben und Konfrontation gegenüber Russland festgelegt.
Das alles verunsichert, macht Angst. Wie auch die Politik des US-Präsidenten Trump. In dieser Situation haben in den vergangenen Jahren nationalistische und ultrarechte Kräfte in vielen EU-Ländern immer mehr an Einfluss gewonnen; in Polen, Ungarn, Italien und so weiter stellen sie die Regierungen. Und sie hatten und haben es leicht, denn ihre demagogische „Kritik“ am „Demokratiedefizit“ der EU, an Bürokratie und mangelnder Transparenz hat auch einen rationalen Kern.
Denn wenn am 26. Mai die Abgeordneten für das EU-Parlament gewählt werden, dann ist beispielsweise schon das ein kaum durchschaubarer Prozess, weil keine einheitlichen Voraussetzungen existieren: In jedem Mitgliedsland der EU gilt das nationale Wahlrecht mit unterschiedlich zugeschnittenen Wahlkreisen, mit Sperrklauseln (oder keinen) und so weiter. Ein einheitliches Prozedere zu den EU-Wahlen gibt es nicht. Die Zahl der Gewählten entspricht zudem nicht der Größe der Bevölkerung der entsprechenden Staaten, sondern „Kontingenten“. Mit derzeit 96 Sitzen ist Deutschland mit der größten Zahl an Abgeordneten im EU-Parlament vertreten, gefolgt von Frankreich, Italien, Großbritannien. Die, die gewählt wurden, arbeiten dann aber nicht für ihre nationalen Parteien und in der Regel dann mehrheitlich auch wohl kaum für ihre Wählerinnen und Wähler, sondern in von niemandem gewählten Fraktionen.
Doch das Parlament selbst hat auch nur wenige Entscheidungsmöglichkeiten. Es kann beispielsweise, wie auch der Europarat, Wichtiges gar nicht alleine beschließen. Es hat nämlich kein eigenes Initiativrecht und kann Gesetze nicht unabhängig von Rat und EU-Kommission auf den Weg bringen. Es hat zudem – anders als nationale Parlamente – keine volle Kontrolle über das Budget. Die wirkliche Macht haben in diesem Zusammenhang – und das ist bereits in den Römischen Verträgen von 1957 angelegt, die damals von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden unterzeichnet wurden – in Brüssel beziehungsweise Straßburg die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH). Staatsrechtler wie der Ex-Verfassungsrichter Dieter Grimm sahen darin schon vor Jahren einen der Gründe für das Demokratiedefizit der EU.
Im Juni 2018 einigten sich in Brüssel die EU-Staaten darauf, Kleinstparteien von spätestens 2024 an keine Chance mehr auf einen Einzug ins Europaparlament zu geben. Die Initiative für diesen im vergangenen Jahr gefassten Beschluss ging von der Bundesregierung aus.
Bislang war eine Sperrklausel für die EU-Staaten erlaubt, aber nicht verpflichtend. Eine Sperrklausel von zwei bis fünf Prozent soll künftig aber nur in Ländern (neu) eingeführt werden, die mehr als 35 Sitze im EU-Parlament haben. Deshalb werden wohl nur Deutschland und Spanien ihr Wahlrecht ändern müssen.