Wie gut, dass die Kinowelt seinen Ankündigungen nicht immer glauben kann! Der heute 84-jährige britische Filmregisseur Ken Loach gehört seit über 50 Jahren zur ersten Garde seiner Zunft und räumt seit den Meisterwerken „Poor Cow“ (1967) und „Kes“ (1969) auf den Festivals in Cannes und anderswo Preise ab. Bereits 2014 kündigte er an, seine aktive Laufbahn zu beenden – und drehte zwei Jahre darauf das ergreifende Sozialdrama „I, Daniel Blake“, das ihm die „Goldene Palme“ in Cannes und den größten kommerziellen Erfolg seiner langen Karriere einbrachte. Wieder war danach von Rückzug die Rede, und wieder sah sich der standhafte Linke gefordert, zu sozialen Fehlentwicklungen in seinem Land Stellung zu nehmen. Sein neues Meisterwerk, „Sorry, we missed you“, basiert auf Einsichten, die Loach und sein Stammautor Paul Laverty bei der Recherche zum Blake-Film gewonnen hatten: Viele derer, die aus Not Suppenküchen und Kleiderkammern besuchen, sind nicht arbeitslos, sie können nur von ihren Hungerlöhnen und „Ich-AGs“ nicht mehr leben.
Zu ihnen gehören auch der Ex-Bauarbeiter Ricky Turner und seine Frau Abby. Er arbeitet als Fahrer für einen Lieferdienst, während Abby ohne festen Vertrag im eigenen Kleinwagen für einen privaten Pflegedienst von Patient zu Patientin eilt und zwischendrin die zwei Kinder per Handy erziehen muss. Ein Familienalltag im Stress, den Rickys Sohn Seb noch durch kleinere Straftaten steigert und bei dem es nicht immer liebevoll zugeht. Erst recht nicht mehr, als Ricky den Verlockungen der „gig economy“ (also der digitalen Arbeitswelt) erliegt und Abbys Auto verkauft, um mit eigenem LKW fortan als „selbstständiger“ Subunternehmer weiter für die Firma zu fahren. Statt der Plackerei im Hamsterrad will er nun sein eigener Herr sein und auch mehr Zeit für die Familie haben. Wer Loach als konsequenten Kapitalismuskritiker kennt, ahnt schon hier, dass Rickys Entscheidung nur in der Katastrophe für ihn und seine Familie enden kann.
Doch den Zuschauer erwartet keine didaktische Lektion über die Gesetze des modernen Kapitalismus. Lavertys umfangreiche Recherchen lieferten die realistische Grundlage für die sachliche, aber temporeich und flott montierte Einführung in die Problematik der digitalen Arbeitswelt und die Betriebsabläufe im Paketdienst. Schon in wenigen Filmminuten lernen wir Denkweise und Lage der Turner-Familie kennen, und von da geht‘s dann fast übergangslos abwärts in einer atemberaubenden Schussfahrt ins Elend. Wie üblich drehte Loach alle Szenen chronologisch und besetzte ausschließlich Laien und unbekannte Darsteller. Die bekamen ihre Texte erst unmittelbar vor dem Dreh, so dass ihre spontane Rollengestaltung unmittelbar authentisch wirkt. Loach/Lavertys Figuren passen nicht ins Gut-Böse-Muster herkömmlicher Dramaturgien. Rickys Boss Maloney, dessen Regime er vergeblich zu entkommen hoffte, sieht wie er selbst sich als Sklave jener Apparatur, die sich bald als die eigentliche Hauptfigur herausstellt: ein brikettgroßer Scanner, der minutengenau die Liefertouren plant und keinerlei Pausen oder Abweichungen erlaubt. Diese drakonische Diktatur der Algorithmen, gegen die auch Streiks nichts ausrichten können, ist Loachs eigentliches Thema, und er behandelt es mit der rigorosen Konsequenz einer griechischen Tragödie.
Emotional auszuhalten ist das nur dank der Glaubwürdigkeit von Story und Figuren. Weder Ricky noch Abby sind Helden ohne Fehl und Tadel, und doch beglückwünscht ein Polizist ihren Sohn Seb zu dem Rückhalt, den er bei ihnen findet. Fast beiläufig schildern Loach/Laverty Rickys ersten Schritt vom Wege proletarischer Solidarität, als er sich Maloney als Ersatzmann für einen soeben gefeuerten Kollegen anbietet – eine Szene, die typisch ist für die unaufgeregte, kühle Stimmung, die den Film vor jeder Agitprop-Polemik bewahrt. Wohl auf Lavertys Konto gehen etliche klug eingestreute „comic reliefs“, humorvolle Momente, die dem Wutstau des Zuschauers rechtzeitig ein Ventil öffnen – etwa wenn Seb und sein Graffiti-Sprayer-Quartett einen Ordnungshüter abblitzen lassen und sich dabei noch über die staatliche Jugendpolitik mokieren, oder wenn Ricky von einem Kollegen eine leere Plastikflasche zugesteckt bekommt, deren Bedeutung für seine neuen Arbeitsabläufe er erst spät und drastisch demonstriert bekommt. Solche Einfälle geben „Sorry, we missed you“ trotz der Schwere seines Themas eine Leichtigkeit, zu der der Meister des sozialkritischen Films wohl erst im hohen Alter finden konnte.