Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ ist der Inbegriff politisch-satirischen Musiktheaters. Ein absoluter Operettenklassiker, der das Zweite Kaiserreich seines III. Napoleon und der bourgeoisen Emporkömmlinge schonungslos dem Gelächter preisgab – unter den Klängen der „Marseillaise“, dem Lied der Revolution. Dabei fühlte sich Komponist Offenbach (1819 bis 1880) aus Köln unter der Diktatur des Bonaparte-Neffen doch pudelwohl und hatte völlig unpolitisch nur seine Musik, den Erfolg und sein Theater im Kopf. Nachdem die Büttel des Kaisers die revoltierenden Arbeiter niedergeschossen hatten, ging Offenbach beruhigt wieder ans Tagesgeschäft. Trotzdem traf das Genie mit untrüglichem Spürsinn den Nerv der Zeit – und bleibt unschlagbar: der „Höllen-Galopp“ seiner „Orpheus“-Operette wurde der berühmteste Cancan der Welt. Fußballfans, ob im Stadion oder vor den Fernsehern, schießen beim Tor ihrer Mannschaft von ihren Plätzen jubelnd zu den Klängen Offenbachs in die Höhe. Es zeigt sich: Nichts ist vor kommerzieller Verballhornung sicher, was der Kapitalismus anfasst, es wird wertlos, also wird Ware („Hier wird nichts verschenkt“).
Operette ist Volkstheater
„Orpheus in der Unterwelt“ war überhaupt die erste Operette im klassischen Sinn, also eine abendfüllende Polit-Komödie voll aktueller Persiflagen mit Gesang und Tanz. Diese Form kam direkt aus der Volkstradition. Schon zuvor gab es zwar „Operetten“ im Sinne von Parodien auf die Große Oper oder als kleine Operchen, erotisch, kurzweilig und voller Anspielungen. Das kam von den mittelalterlichen Jahrmarktsbuden, vom französischen Straßentheater, von den obszönen Farcen, den Vaudevilles, von der frechen Commedia dell’arte und den Wanderbühnen Frankreichs – nicht zu vergessen Molières Truppe, die es bis an den Hof schaffte –, von den französischen Pantomimen (der berühmte Debureau war noch Offenbachs Zeitgenosse), die immer, wenn politische Musikkomödien, wie so oft, von der Polizei verboten wurden, den Stab der Kritik übernahmen und die Volksmassen anzogen. Aber erst Offenbach hatte mit seinen Librettisten den Sprung ins maßgebliche Format geschafft. Mit „Orpheus in der Unterwelt“ gelang ihm nach der Pariser Premiere am 21. Oktober 1858 sein internationaler Durchbruch.
Die Travestie auf Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ paraphrasiert den jahrtausendealten Mythos vom Sänger Orpheus, der mit Schöngesang alle Wesen besänftigt. Ein Schlangenbiss entreißt ihm seine Geliebte Eurydike. Verzweifelt steigt er ins Reich der Toten hinab, um von dessen Gott Pluto mit Gesang ihre Rückkehr in die Oberwelt zu erwirken. Sogar die Gefühllosen werden erweicht und schenken Eurydike den Weg ins Leben, aber nur, wenn Orpheus vorangeht und nie sich umwendet. Der Gang aus der Hölle erweist sich als so besorgniserregend, dass er dem Blick nach Eurydike nicht widersteht. Er verliert sie für immer. Bei Gluck muss der Liebesgott das obligate Happy End der Oper herbeiführen. Offenbach hingegen lässt die Personifikation der „Öffentlichen Meinung“, den verwitweten Orpheus, bei Zeus (Karikatur Napoleons III.) auf dem Olymp um Eurydike bitten. Die Götter begleiten ihn in den Hades und feiern dort Party – mit Ballett und Champagner.
Der gesellschaftsentlarvende Biss des Stückes war natürlich den Librettisten Halévy und Crémieux zu verdanken, aber erst die Energie und der Witz von Offenbachs unverwüstlichen Melodien entzündeten das Ganze. „Diese Musik könnte Tote erwecken“, schrieb einer der Theater-Journalisten über den Dauerbrenner: „… und es war, als würde ein ganzes Zeitalter mit seinen Regierungen, Institutionen, Sitten und Gesetzen in eine unerhörte und alles mitreißende Sarabande hineingerissen.“ Das Zeitalter selbst war die pure Operette: „Alles erweckt den Eindruck eines Totentanzes um das Goldene Kalb. (…) Das Leben ist gekünstelt, alles unnatürlich, ein unsinniger Luxus, empörende Unsittlichkeit, kein anderer Gott als das Geld, kein anderes Ideal als der Magen.“
Ein enormer Qualitätssprung
Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, Operetten für diese platte, kleinbürgerlich-kitschige Unterhaltungskunst zu halten, zu der die Kulturindustrie des vorigen Jahrhunderts, nicht zuletzt dank der UfA unter den Faschisten und, weiterführend, die BRD-Produktion von Operettenfilmen das Genre später zu geistloser Harmlosigkeit niedermachte. Der Esprit des politischen Volkstheaters mit seinen gefährlichen Gassenhauern war erloschen. Oder doch nicht? 1964 hatte im Berliner Deutschen Theater eine Bearbeitung von Offenbachs Operette „Die schöne Helena“ Premiere: ihr Autor hieß Peter Hacks. Es war der größte Erfolg der Theatergeschichte der Deutschen Demokratischen Republik. Harmlos war auch hier das Vergnügen des Publikums nicht, das immerhin seine eigenen Errungenschaften im Sozialismus zu feiern vermochte!
Kein anderer als Hacks, Erbe des Aristophanes aus Wielands Hand, Erbe Wielands selber („Göttergespräche“, 1790 bis 1793), Erbe Heines und G. B. Shaws, führt die Operette wieder auf eine neue Ebene der Kunst – im Sozialismus, dessen Welt nun den bestimmenden Rahmen bildet. Ein weiterer Qualitätssprung. Kein Zynismus. Die Ironie erreicht ein höheres Ethos: die Liebe erzeugt allen Humor mit Humanität. Allerdings war die herrschende Heiterkeit des Aufschwungs der DDR-Gesellschaft stets harten Proben ausgesetzt. Und damit deuten sich Bezüge zur Ausgangs-Situation der Ersten Szenen aller Orpheus-Dramen an.
Hacks in der Unterwelt
Die anstrengend geliebte Deutsche Demokratische Republik sollte der Dichter und Dramatiker 1989/90 verlieren, als sie der Sowjetunion in den Orkus des mörderischen Kapitalismus voraussprang, also sich der Bourgeoisie auslieferte. Als das Deutsche Theater kurze Zeit später Hacks um eine neue Offenbach-Bearbeitung anging, lag für ihn die Wahl von „Orpheus in der Unterwelt“ auf der Hand. Diese „Operette für Schauspieler“ würde ebenfalls eine höchst politische, vielleicht die politischste von allen sein. Es wurde letztendlich das so oft beschworene Werk über diese angeblich „postsozialistische“ Epoche, in der wir vegetieren, und damit ein Meisterwerk.
Hacks lieferte 1994 das Bestellte an den Auftraggeber, der bezahlte – aufgeführt aber wurde nichts. Das Lied vom Ausstieg aus der kapitalistischen Hölle sollte in der gesamtdeutschen Hauptstadt oder anderen Metropolen nicht gesungen werden – sondern 1998 im Bitterfelder Kulturpalast, inszeniert von Jens Mehrle und Stefan Nolte. Ronald Weber bemerkt in seiner Hacks-Biografie, die BRD-Kritiker hätten den politischen Charakter dieser Bearbeitung durchweg verstanden und die „Berliner Zeitung“ mithin Hacks als „Kommunisten entlarvt“. Bei Hacks‘ Orpheus nämlich verweist der Zusatz „Staatskünstler“ auf die Kunst des Staates: die des Regierens als höchste aller Künste. Das Stück ist eine süßsaure Allegorie – auf das Jetzt des „Postsozialismus“. Der Bevölkerung der DDR ward von der Unterwelt Bescheid gegeben: „Das gnädige Fräulein werden hier gewiss niemals den Ton angeben, das können das gnädige Fräulein versichert sein.“
Kartenvorverkauf
Die Musikalische Lesung „Orpheus in der Unterwelt“ nach Peter Hacks und Jacques Offenbach zum 21. UZ-Pressefest findet am 27. August, 19.30 Uhr, im Kino Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, statt. Sie ist in mehrfacher Hinsicht die Ausnahme auf dem UZ-Pressefest – sie kostet einen kleinen Eintritt (12 Euro / ermäßigt 8 Euro). Ab sofort können Karten bestellt werden:
Kartentelefon 030/36466424 und per E-Mail: tickets@peter-hacks-gesellschaft.de.
Im UZ-Shop gibt es limitierte Soli-Bändchen, die ebenfalls zum Eintritt für das Theaterstück berechtigen.
Publikumsgespräch
Am Sonntag, den 28. August, findet um 10 Uhr in der Maigalerie der „jungen Welt“ ein Frühschoppen zur Aufführung mit Jens Mehrle, Detlef Kannapin, Patrik Köbele und Mitwirkenden des Stücks statt.
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