Nach mehr als 500 Jahren ungleicher Handelsbeziehungen mit Europa, transatlantischem Sklavenhandel und europäischem Kolonialismus ist Westafrika heute die ärmste Region der Welt. Zahlreiche Versuche, aus diesem Elend, der Unterdrückung und Ausbeutung auszubrechen, scheiterten bislang an der Macht des Imperialismus. Aus dieser Geschichte des Widerstands können wir viel lernen – gerade heute, wo eine neue antiimperialistische Welle durch den Sahel schwappt und sich das internationale Kräfteverhältnis verlagert, zu Ungunsten der USA und der europäischen Imperialisten. Dafür bietet sich ein Blick auf Mali an: In diesem Binnenstaat lassen sich die Schwierigkeiten, sich aus den Verheerungen zu befreien, die Kolonialismus und Neokolonialismus hinterlassen haben, wie unter einem Brennglas studieren.
Als europäische Sklavenhändler Ende des 16. Jahrhunderts in Westafrika eintrafen, befanden sich die Gesellschaften dort in einer Phase der Durchsetzung feudaler Produktionsverhältnisse und der Erosion patriarchalischer Machtstrukturen. Die nächsten drei Jahrhunderte war die westafrikanische Küste ein zentraler Knotenpunkt des transatlantischen Sklavenhandels. Das Hinterland wurde zu einem Jagdrevier für Gefangene. Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Frankreich eine direkte Kolonialherrschaft über große Teile Westafrikas. Im Gegensatz zu den Kolonialherren Ost- und Südafrikas, die die kommunalen Beziehungen auflösten und eine Klasse enteigneter Arbeiter schufen, exportierte Frankreich nur wenig Kapital nach Westafrika und beschränkte sein direktes Engagement in der Produktionssphäre. Die Kolonialherren in Paris kauften landwirtschaftliche Pflichtprodukte – zunächst vor allem Erdnüsse, später auch Baumwolle – zu niedrigen Preisen auf und verkauften minderwertige Konsumgüter zu hohen Preisen. Das Gebiet der heutigen Republik Mali wurde so in den imperialistischen Weltmarkt integriert, blieb aber stark von halb-, teils vorfeudalen Gemeindestrukturen geprägt. Darauf basierten Subsistenzlandwirtschaft, kollektiver Bodenbesitz und patriarchale Familienstrukturen.
Formelle Unabhängigkeit
Nach langem politischen Kampf gegen den französischen Kolonialismus wurde 1960 die Republik Mali gegründet. Wie viele antikoloniale Kräfte in „Französisch-Westafrika“ stand auch die malische Unabhängigkeitsbewegung in enger Verbindung mit der kommunistischen Weltbewegung. Modibo Keïta, Mitbegründer der neuen Regierungspartei Union Soudanaise (US), war als junger Lehrer in Bamako in den Groupes d’Etudes Communistes aktiv gewesen. Diese Studienzellen verbreiteten sich in den 1940er Jahren mit Hilfe der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) über ganz West- und Äquatorialafrika und beeinflussten eine Generation junger Revolutionäre.
Als erster Präsident Malis verkündete Keïta, sein Land entscheide sich für die „Option socialiste“. Ziel dieser zweiten Phase des nationalen Befreiungskampfes war es, über die formale Souveränität hinauszugehen und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Die US verstaatlichte Schlüsselsektoren der ehemals kolonialisierten Wirtschaft und integrierte sie in einen Fünfjahresplan. Sie schuf eine neue Währung, um sich aus der CFA-Franc-Währungsunion zu lösen. Sie rief eine „Action rurale“ ins Leben, um die großenteils noch vorfeudal geprägten Dorfgemeinden in moderne landwirtschaftliche Genossenschaften zu verwandeln. Diese „Ländliche Aktion“ sollte das Herzstück der sozialistischen Transformation werden. Die Landwirtschaft nämlich produzierte 92 Prozent der Exportgüter Malis. Geleitet von staatlichen Ausleihstationen sollten neue Genossenschaften die landwirtschaftliche Produktion über die Subsistenz hinaus steigern und so Mittel für die Industrialisierung des Landes generieren. Zusammengenommen sollten diese Maßnahmen die ersten Schritte einer dreistufigen Revolution sein: Eine „sozialistische Umgestaltung“ der bestehenden Verhältnisse, gefolgt vom Aufbau des Sozialismus, und schließlich der „Konsolidierung der sozialistischen Gesellschaft“.
Heterogene Partei
Die US bezeichnete Marxismus-Leninismus als ihre ideologische Grundlage, doch blieb sie eine sozial und ideologisch heterogene „patriotische Front“. Eine rechte Strömung innerhalb der Partei hatte eine starke Position in der Führung inne. Sie griff die sozialistische Zielstellung nicht offen an, sondern setzte sich für gemäßigte Reformen und ein weniger gegnerisches Verhältnis zu Frankreich ein. Ein linker Flügel der Partei, getragen vom Jugendverband und Gewerkschaftern, trat für die konsequente Umsetzung der „Option socialiste“ und engere Beziehungen mit sozialistischen Ländern ein.
Nach der damaligen Analyse der kommunistischen Bewegung war Mali jetzt auf einem „nichtkapitalistischen Entwicklungsweg“ (NKEW). Der beinhaltete eine antiimperialistische Transformation und tiefgreifende Demokratisierung der Gesellschaft. Die jahrhundertelange europäische Ausbeutung machte den unmittelbaren sozialistischen Aufbau in Mali unmöglich. Die Idee des NKEW war es, mit Hilfe der sozialistischen Staaten die politischen, materiellen und sozioökonomischen Voraussetzungen für Sozialismus zu schaffen, ohne eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen zu müssen.
In den meisten ehemaligen Kolonien war die Arbeiterklasse erst im Entstehen begriffen. So musste es in den jungen Nationalstaaten eine Übergangsphase geben, eine „nationale Demokratie“, in der eine antiimperialistische Front aus Arbeitern, Bauern, Kleinbürgertum und sogar Teilen der nationalen Bourgeoisie die Macht ausübt. An der Spitze standen oft „revolutionäre Demokraten“ aus den Zwischenschichten: Kleinbürger, Offiziere oder Intellektuelle wie Modibo Keïta, die Hegemonie in der nationalen Bewegung genossen. Diese Analyse wurde auf dem Treffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien 1960 in Moskau formuliert und anschließend von sozialistischen Wissenschaftlern weiter ausgearbeitet. Das Konzept der „nationalen Demokratie“ bleibt bis heute eine zentrale strategische Orientierung für viele Kommunistische Parteien in ehemaligen Kolonien.
Hilfe aus der DDR
Die sozialistischen Staaten begannen, qualitativ neue Beziehungen zu nationaldemokratischen Staaten wie Mali aufzubauen. Die DDR nahm hunderte malischer Studenten auf und entsandte eigene Experten nach Mali, um beispielsweise bei der Bekämpfung von Epidemien oder der Organisierung der Gewerkschaften zu helfen. Zum ersten Mal kamen Europäer nicht nach Mali, um das Land auszubeuten, sondern um beim Aufbau einer eigenständigen Gesellschaft zu helfen. Die erste FDJ-Brigade der Freundschaft war in Zentral-Mali stationiert, um bei der Action rurale zu helfen. Die Mannschaft bestand aus jungen Agrarspezialisten, Mechanikern und Ärzten. Sie brachten Traktoren, Pflüge und Sämaschinen mit.
Mitte der 1960er Jahre waren erhebliche Fortschritte erzielt worden. Während die Franzosen nur 4 Prozent der kolonialen Steuern für die Bildung in Westafrika ausgegeben hatten, wurde auf dem nichtkapitalistischen Entwicklungsweg Malis die Zahl der Grund- und Sekundarschüler in nur drei Jahren verdoppelt. Hunderte neuer medizinischer Einrichtungen wurden im ganzen Land errichtet. In der Landwirtschaft wurden über 45.000 Hektar Land bewässert und hunderte staatliche Ausleihstationen aufgebaut.
Diese Errungenschaften blieben jedoch hinter dem Fünfjahresplan der Regierung zurück. Die Action rurale stieß auf praktische und politische Probleme, da innerhalb der Partei Uneinigkeit über die künftige Rolle der Dorfgemeinden bestand. Der revolutionäre Flügel strebte eine allmähliche Umwandlung der auf Subsistenz basierenden Dörfer in moderne, warenproduzierende Genossenschaften an, die sich auf neue demokratische Entscheidungsstrukturen stützen sollten. Rechte Elemente in der Partei traten jedoch für eine Wiederbelebung „traditioneller“ dörflicher Strukturen ein. Dadurch wurden unbeabsichtigt in manchen Regionen die konterrevolutionären Kräfte auf dem Lande gestärkt.
Ein altes Problem
Das am schwersten wiegende Problem waren jedoch die Handelsbedingungen. Der Union Soudanaise war es zwar gelungen, ausländische Konzerne vom heimischen Agrarmarkt zu verdrängen und damit den direkten Abfluss des Nationalprodukts zu stoppen. Malische Produkte waren aber weiterhin den Preisen auf dem kapitalistischen Weltmarkt ausgeliefert. Für das Binnenland machten die Kosten für den Transport der Waren zu den Häfen in Senegal und Guinea den Export unrentabel. Subventionen für die Baumwollproduktion in Europa und den USA verschärften die Ungleichheit der Handelsbeziehungen. Hinzu kam, dass sich Frankreich in die Benzinlieferungen einmischte. Die Handelsbedingungen verschlechterten sich Jahr für Jahr und das Defizit stieg rasant an.
Keïta wandte sich wiederholt an die sozialistischen Staaten mit der Bitte um mehr Unterstützung. Doch war die DDR nicht in der Lage, dauerhaft Preise oberhalb des Weltmarktniveaus für Produkte aus Mali zu bezahlen. Die Sowjetunion gewährte Mali Kredite im Wert von rund 68 Millionen US-Dollar und bildete tausende Fachkräfte und Kader aus. Doch das Land brauchte vor allem starke Handelspartner. Ohne einen kontinuierlichen Strom von Einnahmen aus Agrarexporten konnte es keine Industrialisierung geben.
Die Partei zerbricht
Die antikoloniale Einheit, die die Union Soudanaise in den ersten Jahren der Unabhängigkeit zusammenhielt, zerbrach bald. Vor dem Hintergrund der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten ging der rechte Flügel in die Offensive und verhandelte mit Frankreich über den Wiedereintritt in die CFA-Franc-Währungszone. Dieser Schritt, behaupteten sie, verbessere den Handel mit den Nachbarstaaten. Der linke Parteiflügel lehnte diesen Ansatz ab und warf der „bürokratischen Bourgeoisie“ vor, die Politik der Partei nicht konsequent genug umzusetzen. Das neue Finanzabkommen mit Frankreich, das im Februar 1967 vorläufig genehmigt wurde, erwies sich als fatal für die malische Wirtschaft. In den folgenden drei Monaten sank der Wert der malischen Währung um 50 Prozent. Unruhen begannen die Städte zu erschüttern.
Mit Unterstützung der Gewerkschaft und des Jugendverbands gelang es den Parteilinken, die pro-französische Fraktion zu verdrängen. Keïta leitete nun eine Umwandlung der Massenpartei in eine avantgardistische ein. Diese Erkenntnis verbreitete sich Mitte der 1960er auf dem gesamten Kontinent: Die pluralistischen antikolonialen Fronten, die an der Spitze der Bewegung gestanden hatten, waren nicht mehr in der Lage, die Revolution in der zweiten Phase des Befreiungskampfes voranzutreiben.
Für die US kam der Umbau zu spät. Im November 1968 putschte das Militär. Die Gewerkschaft und der Jugendverband wurden schnell ausgeschaltet. Die bäuerlichen Massen blieben weitgehend verhalten. Keïta und seine Anhänger wurden verhaftet und der NKEW ein Ende gesetzt. Der Anführer des Putsches, Moussa Traoré, war ein in Frankreich ausgebildeter Leutnant, der erst kurz zuvor von einem langen Aufenthalt in Paris nach Mali zurückkehrt war.
Die Tragik der Entwicklung in Mali bestand darin, dass das sozialistische Lager damals nicht in der Lage war, wirtschaftliche Beziehungen in einem Umfang aufzubauen, der es aus neokolonialen Abhängigkeiten hätte befreien können. Während Länder wie die Mongolei oder die zentralasiatischen Sowjetrepubliken erfolgreich einen NKEW beschritten hatten, war dieser Weg für Länder in Afrika viel komplizierter. Ohne ein stärkeres sozialistisches Weltwirtschaftssystem samt entsprechender Handelsinfrastruktur blieben isolierte und abhängige Länder wie Mali den Preisen des imperialistischen Weltmarktes unterworfen.
Die Lage in Westafrika ist heute nach wie vor äußerst prekär. Die neuen antiimperialistischen Regierungen in Mali, Burkina Faso und Niger stehen vor großen Herausforderungen. Im Gegensatz zu denen der 1960er Jahre sind diese Regierungen kaum vom Marxismus geprägt. Doch die Geschichte zeigt, dass Befreiungsbewegungen wie die Union Soudanaise sich im Verlauf der Kämpfe rasch weiterentwickeln können. Für Westafrika ist der Aufstieg Chinas von großer Bedeutung, weil er neue Handelsinfrastrukturen und Möglichkeiten auf dem Kontinent mit sich bringt. Der Sozialismus steht nicht vor der Tür, aber das mindert die Bedeutung der Aufstände in der Sahelzone nicht. Wie die West African Peoples Organization in einer Erklärung neulich feststellte: „Der Wandel kommt. Aber er kommt in seinem eigenen Tempo.“
Unser Autor ist Mitarbeiter der Internationalen Forschungsstelle DDR (IFDDR) in Berlin.