Das Außenministerium der VR China hat einen historischen Text veröffentlicht. Dieser trägt den Titel: „US-Hegemonie und ihre Gefahren“. Offenbar herrscht in Peking Klarheit darüber, in welcher historischen und geostrategischen Lage sich China, Russland sowie alle anderen Staaten befinden, die nicht gewillt sind, Befehle aus Washington entgegenzunehmen.
Klarheit herrscht in Peking auch darüber, dass die US-Führung bereit ist, alles in die Waagschale zu werfen, um den Verlust ihrer Vorherrschaft abzuwenden. Die chinesische Führung hat sich offensichtlich entschlossen, den von Washington ausgelösten hybriden Kampf „Demokratie vs. Autokratie“ (Biden) nicht passiv hinzunehmen, sondern entschlossen dagegenzuhalten. Das chinesische Papier behandelt politische, militärische, ökonomische, technologische und kulturelle Felder der US-amerikanischen Machtprojektion seit der Staatsgründung 1776 oder, wie es im Dokument heißt, des „Missbrauchs der US-Hegemonie“.
Es handelt sich um ein sehr dichtes Dokument, das hier nur ansatzweise dargestellt werden kann. Darin listet das chinesische Außenministerium die Fakten der brutalen Kriege des US-Imperiums schonungslos auf. Das Papier zitiert eine Untersuchung der US-amerikanischen Tufts-Universität, nach der das US-Militär nahezu 400 Militärinterventionen zwischen 1776 und 2019 unternommen habe. Und es wird angegeben, dass die USA zurzeit in 159 Staaten über 800 Militärbasen mit 173.000 Soldaten unterhalten. Tatsächlich gibt Tufts sogar über 500 US-Militärinterventionen an. Die Zahlenangaben sind also insgesamt eher zurückhaltend.
Selbstredend hält sich das US-Militär an keinerlei Kriegsrecht: „Während des Koreakrieges, des Vietnamkrieges, des Golfkrieges, des Kosovokrieges, des Krieges in Afghanistan und des Irakkrieges“, so das Dokument, „verwendeten die Vereinigten Staaten gewaltige Mengen chemischer und biologischer Waffen, ebenso wie Cluster-Bomben, Aerosolbomben, Grafitbomben und Bomben mit abgereichertem Uran, welche enorme Schäden an zivilen Einrichtungen, zahllose zivile Opfer und langanhaltende Umweltschäden verursachten.“ US-Geostratege John Mearsheimer kommentierte, die USA benähmen sich „wie Godzilla“.
Bei den permanenten US-Kriegen geht es zum einen um die globale US-Herrschaft, zum anderen um die dadurch mögliche Aneignung großer Teile des global erzeugten Mehrwertes, gewissermaßen die Realisierung einer globalen Rentenforderung. Das Papier skizziert im Abschnitt III, „Ökonomische Hegemonie – Plünderung und Ausbeutung“, die Mechanismen dieses Prozesses: „Es kostet 17 Cent, eine 100-Dollar-Note zu produzieren, aber andere Staaten haben dafür Waren im Wert von 100 Dollar zu produzieren.“ Die Hegemonie des US-Dollars sei „die bedeutendste Ursache für Instabilität und Unsicherheit in der globalen Ökonomie“. Während der Covid-19-Pandemie hätten die USA „Billionen von Dollar in den globalen Markt gedrückt“ und andere Länder, insbesondere die Schwellenländer, „den Preis zahlen lassen“. Was der US-Dollar allein nicht erreicht, das besorgen die Sanktionen und der IWF. Die USA „haben Sanktionen gegen nahezu 40 Länder auf der Welt verhängt“, davon betroffen sei „fast die halbe Weltbevölkerung“. Der IWF habe mit Hilfe seines „Entschuldungsprogramms“ zwischen 1985 und 2014 „55.465 politische Auflagen verhängt“.
Ohne die Möglichkeit zur globalen Ausplünderung stünde die deindustrialisierte US-Ökonomie vor dem Kollaps. Daher macht der Verfall seiner globalen Machtprojektion das US-Imperium zunehmend aggressiv und gefährlich, wie in der Ukraine sichtbar. Die außenpolitisch bestimmenden US-Neokonservativen, die von einem weiteren US-amerikanischen Jahrhundert träumen, riskieren buchstäblich alles, um ihre absurden Phantasien tatsächlich realisieren zu können.
Das chinesische Papier ist inhaltlich in vielen Punkten der russischen Position sehr nahe. Diese hatte der brasilianische Analytiker Pepe Escobar anhand einer Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin als eine „fundamentale Zurschaustellung von (russischer, K.W.) Souveränität“ gewertet. Ähnliches lässt sich von der chinesischen Position sagen, die einen ideologischen Frontalangriff auf die US-Hegemonie darstellt. Was sich seit einem Jahr vollziehe, so Escobar, sei „die Geburtsstunde der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts“. Der Kollektive Westen hat dabei nicht nur die Staaten der Eurasischen Kooperation gegen sich und seine Konfrontationspolitik, sondern in zunehmenden Maße auch die Meinung des Globalen Südens. Trotz aller Kriege, Sanktionen, Manipulationen, Drohungen und Propagandalügen. Und wie so oft vollzieht sich die Geburt einer neuen historischen Epoche unter gewaltigen Schmerzen und Risiken. Im Atomzeitalter heißt das größte dieser Risiken allerdings: Selbstvernichtung der Gattung.