Die bisherige Drogenpolitik der Bundesregierung stößt in der Fachwelt zunehmend auf Ablehnung. In der vergangenen Woche veröffentlichten der „Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik – akzept e.V.“ und die Deutsche Aidshilfe (DAH) in Berlin den „Alternativen Drogen- und Suchtbericht 2020“. Zahlreiche namhafte Autorinnen und Autoren informieren darin über vorbildliche Projekte und innovative Ansätze, weisen auf Missstände und Blockaden hin und entwerfen Szenarien für eine Drogenpolitik der Zukunft. Ein solches Korrektiv sei „weiterhin dringend notwendig“, stellen die Herausgeber in ihrem Vorwort klar. Zwar verfüge Deutschland „über ein differenziertes Hilfesystem“, zugleich blieben „jedoch eine Vielzahl an Möglichkeiten ungenutzt“. „Individuen und die Gesellschaft könnten noch weit besser vor den Folgen des Drogenkonsums geschützt werden, als es bisher geschieht. Gleich, ob es um Tabak und Alkohol geht oder um illegale Substanzen“, konstatieren die Verfasser. Auch die Anzahl der Menschen, die an den Folgen ihres Drogenkonsums versterben, könnte „wesentlich geringer ausfallen“ und Gesundheitsschäden ließen sich reduzieren oder vermeiden.
Insgesamt 1.398 Menschen verstarben im vergangenen Jahr am Konsum illegalisierter Drogen beziehungsweise an den Umständen des Konsums, womit die Zahl der Todesopfer einmal mehr angestiegen ist. Doch auch dieser neuerliche Anstieg an Todesopfern ändert nichts an der repressiv ausgerichteten Drogenpolitik der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD. „Während die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und das Bundeskriminalamt alle registrierten drogenbezogenen Straftaten in die Nähe der organisierten Kriminalität stellen, sind in Wirklichkeit 80 Prozent sogenannte konsumnahe Delikte“, erläuterte Dirk Schäffer, Drogenreferent der DAH, anlässlich der Vorstellung des „Rauschgiftlageberichts 2019“ des Bundeskriminalamtes im September. So sei der angebliche Anstieg bei der Drogenkriminalität fast ausschließlich auf die verstärkte Verfolgung von Konsumentinnen und Konsumenten zurückzuführen, kritisierte Schäffer.
Besonders deutlich würden die schädlichen Folgen der Drogenverbotspolitik am Beispiel von Cannabis. „Cannabisbezogene Delikte machten 2019 rund 60 Prozent der fast 360.000 erfassten Drogendelikte und 65 Prozent aller konsumnahen Delikte aus. Zum Vergleich: Kokainbezogene Delikte machten 5,6 Prozent aller Drogendelikte aus, Heroin 3 Prozent. Damit würden erwachsene Konsumentinnen und Konsumenten „systematisch kriminalisiert, häufig mit dramatischen beruflichen und privaten Folgen“, urteilte der DAH-Drogenreferent.
„Millionen Menschen, darunter viele junge, konsumieren Cannabis, nicht wenige machen auch Erfahrungen mit anderen Drogen. Die meisten entwickeln keine nennenswerten Probleme. Es ist vor allem das Strafrecht, das oft Leben oder Karrieren zerstört“, berichtete Dr. Bernd Werse, Vorstandsmitglied der „European Society for Social Drug Research“ sowie „Centre for Drug Research“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Verfolgung durch eine regulierte Abgabe der Substanzen zu ersetzen, würde den Konsumierenden Produktsicherheit bieten und Milliarden Euro für sinnvolle Präventions- und Behandlungsangebote freisetzen, stellte er klar.
Eine staatlich regulierte Abgabe, je nach Substanz zum Beispiel über Fachgeschäfte oder das Medizinsystem, würde hingegen Qualitätskontrollen ermöglichen. Polizei und Justiz könnten enorme Ressourcen sparen – insbesondere bei der massenhaften, aber völlig nutzlosen Strafverfolgung von Cannabis-Konsumentinnen und -Konsumenten, so Werse weiter.
Rund 13 Prozent aller Inhaftierten und fünf Prozent der inhaftierten Jugendlichen saßen 2018 wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) ein, erinnerte er. „Das zeigt auch: Der Jugendschutz im Bereich Drogen ist endgültig gescheitert“, erinnerte hingegen Dirk Schäffer.
Tatsächlich spricht sich die Mehrheit der Suchtexperten, Mediziner und Aktivistinnen und Aktivisten aus Selbsthilfeorganisationen für eine Reihe konkreter Änderungen in der Drogenpolitik aus, welche die ansteigende Zahl der Todesfälle durch legale und illegale Drogen senken und schädliche Folgen von Abhängigkeit reduzieren sollen. Geht es nach den Fachleuten und Suchtmedizinern, sollten Ansätze der so genannten Schadensminimierung zukünftig nicht nur beim Konsum illegalisierter Stoffe, künftig auch bei Tabak- und Alkoholkonsum überall angeboten werden. Die staatlich regulierte Abgabe von bisher illegalen Substanzen könne außerdem den kriminellen Drogenhandel reduzieren und somit „Menschen vor den Gefahren der Illegalität bewahren und Jugend- und Verbraucherschutz ermöglichen“. Zugleich könne eine „effiziente Drogenpolitik“ „rasch gelingen“, „wenn die Bundesregierung Kompetenz in einem drogenpolitischen Fachbeirat zusammenführen würde.“
Dies hatte auch die von Philine Edbauer und Julia Meisner gegründete Initiative „mybrainmychoice“ gefordert, die sich in einer von rund 20.000 Menschen unterstützten Petition und einer Kampagne für eine neue Drogenpolitik aussprachen. Sie forderten von der Bundesdrogenbeauftragten Daniela Ludwig (CSU) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), endlich „eine unabhängige, transdisziplinäre Kommission zu engagieren, um ein Konzept für eine zeitgemäße, wissenschaftsbasierte Drogenpolitik zu erarbeiten, das anschließend umgesetzt wird“. Konkret fordern die Aktivistinnen, aber auch die übergroße Mehrheit der Fachwelt einen flächendeckenden Ausbau öffentlicher Drogenkonsumräume, Drug-Checking-Angebote, Spritzenprogramme, Diamorphin-Substitution und Naloxon-Vergabe, um Menschenleben zu retten.
In der Realität ist es hingegen bisher so, dass Konsumentinnen und Konsumenten „marginalisiert statt unterstützt“ würden. Dies „oft mit tödlichem Ausgang“, wie Prof. Dr. Heino Stöver, Vorstandsvorsitzender des akzept-Bundesverbandes und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung an der Frankfurt Fachhochschule, bei der Vorstellung des „Alternativen Drogen- und Suchtberichts“ kritisierte.
Und tatsächlich: In der Hälfte der Bundesländer existierenkeine Drogenkonsumräume, obwohl dort in einem sicheren Umfeld, mit sterilen Spritzen und ausgebildetem Personal konsumiert werden kann und benutzte Spritzen und anderes Konsummaterial entsprechend entsorgt werden kann. In Gefängnissen sind bis heute keine sauberen Spritzen verfügbar, obwohl gerade dort das Infektionsrisiko mit HIV und Hepatitis besonders hoch und Drogenkonsum Alltag ist.
Für Substanzen wie Amphetamine und Kokain, die mittlerweile als weitestgehend erschwinglich gelten und vor allem in der Mitte der Gesellschaft konsumiert werden, existieren keinerlei flächendeckenden Drug-Checking-Angebote, bei denen die Stoffe auf ihren Wirkstoffgehalt und schädliche Beimengungen untersucht werden und den Konsumentinnen und Konsumenten zugleich Beratungsangebot unterbreitet wird.