Christoph Hein
Gegenlauschangriff
Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege.
Suhrkamp Verlag 2019
126 Seiten, 14,- Euro
Als Christoph Hein kürzlich seinen Schriftstellerkollegen Friedrich Dieckmann traf und von ihm gefragt wurde, wann dieser deutsch-deutsche Krieg war, antwortete Hein: „Ich weiß nur, der letzte begann 1990.“ Heins Anekdoten sind vielseitig orientiert. Der Autor überrascht seine Leser in doppelter Hinsicht mit einer neuen, anderen Chronik: Statt eines Romans sind es Anekdoten; statt einer Autobiografie bietet er zu seinem bevorstehenden 75. Geburtstag scheinbar persönliche Erlebnisse, die das Zeitgeschehen charakterisieren. Das Buch meldet in seinem Titel schließlich noch einen anderen Anspruch an. Der ist hochpolitisch, fast militant: Gegenlauschangriff. Das deutet auf Überwachung durch staatliche Behörden hin; doch wird der Begriff anders gebraucht: Eine Diskussion von Schriftstellern und Künstlern mit Staatsfunktionären über einen Protest wird von Manfred Krug 1976 privat aufgezeichnet; so entsteht der andere Lauschangriff, der auf den Staat.
Die „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ sind ernst zu nehmen; es geht nicht um leere deutsche Einheit, sondern um den Gegensatz zwischen zwei deutschen Staaten als Vertreter gegensätzlicher Systeme. Und das wird, wie Hein mit Hinweisen auf emotionale Haltungen, aber vor allem auf Gewinn- und Verdienstbedingungen belegt, lange so bleiben. Von Hass, Verdrängung der Ostdeutschen, Ersatz von DDR-Kunst durch „richtige Kunst“ ist die Rede. Der Untertitel weist auf deutsche Dichtung hin, die mit politischer Räson, kritischer Selbstbehauptung und staatsbewusstem Verhalten im Disput stand, eine Dichtung wie Heinrich von Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“. Das meint sprachliche Qualität, aber auch, dass bei Kleist der Besiegte zum Sieger wird. Heins Denken arbeitet mit dem Anderssein, „Es war alles ganz anders“ – ein Titel Heins – zitiert den berühmten, von Hein verehrten marxistischen Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer. Hein lehnt es ab, „nachträglich zu delegitimieren“, sondern sucht den differenzierten Blick auf die Geschichte ebenso wie auf die Zeit seit1989.
Die „Anekdoten“ – „diese heitere, zuweilen böse Form“ (Hein) – stammen aus der Zeit vor und nach 1989 und reichen bis zur heutigen Bedrohung durch Neonazis. Das ist typisch für ihn: Er, der persönlich Ernüchterndes und Störend-Zerstörendes in der DDR erlebt hat, sieht das im Kontext mit dem Störend-Zerstörerischen der Bundesrepublik. Hein erlebte zwei Staaten und zwei Systeme, in denen Literatur unterschiedliche Bedeutung hatte: Während Literatur in der DDR von der Staatsführung als Seismograph der gesellschaftlichen Entwicklung und damit als Maßstab für die Wirksamkeit der Politik betrachtet und entsprechend ernst genommen wurde – das ist nicht mit dem Begriff „Zensur“ zu erfassen und auch nicht mit Verfolgung von Sprache und ähnlichem Unsinn, der zu lesen ist –, war und ist sie in der Bundesrepublik ein als überflüssig zu behandelndes Anhängsel, das als Verkaufsidee existiert. Hein hat für beides eindrucksvolle Erfahrungen gemacht, die er nun, anekdotisch zugespitzt und schlicht, fast lakonisch beschrieben, seinen Lesern übergibt. Es sind persönliche Erlebnisse vor 1989 im Kampf gegen beherrschende Kontrolle, aber auch nach 1989 im Kampf gegen einen „Aufbau Ost“, der Zerstörung einer gut funktionierenden Kultur meint, wofür Hein mehrere Beispiele bietet. Hein polemisiert gegen eine überhöhte Politisierung von Kunst, aber anerkennt ihre menschenbildende Kraft, so wenn er mit großem Verständnis von drei Schauspielerinnen aus der DDR berichtet, die mit Tschechows „Drei Schwestern“ in der Bundesrepublik auftraten und die Gelegenheit nutzten, um ihre Sehnsucht nach Moskau im Stück mit einer Reise ins Paris des 20. Jahrhunderts zu stillen.
Hein beschreibt unterschiedliche Leben, die er kennen lernte: In der DDR war es anstrengend, ihm als Pfarrerssohn wurden Schwierigkeiten beim Weg zum Abitur bereitet, aber Hein beschreibt auch, dass der Weg gangbar wurde, wenn man Durchsetzungskraft und Willen mitbrachte, und dass er schließlich das studieren durfte, was ihn am meisten interessierte. Hein möchte keine der heute üblichen und inflationär steigenden Opferrollen annehmen. Dazu passt seine Polemik gegen den Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck und dessen Film „Das Leben der Anderen“. Daraus ist ein neuer Literaturstreit entstanden, die eingefleischten DDR-Fresser bestreiten Heins differenzierte Sicht. Er wird der Lüge in dem Text „Mein Leben, leicht überarbeitet“, um die andere Wahrheit durchzusetzen und Hein „Verfälschung der Wahrheit“ zu unterstellen, weil man nicht zulassen kann, dass ein Schriftsteller in der DDR nicht nur Stasi, sondern Geschichte und Kultur zu sehen vermag.
Heins Anekdoten spielen mit Ironie, die den Zynismus streift, ohne zu zerstören. Doch schmerzt oft anklingende Bitterkeit, wenn Hein die Vernichtung der DDR-Kultur nach 1989 in Namen des „Aufbau Ost“ beschreibt: So hatte Eisenach ein eigenes Theater, „das erst nach der Wende im Rahmen der Aktion ‚Aufbau Ost’ abgewickelt wurde“.
Heins Band erschien kurz vor seinem 75. Geburtstag am 8. April 2019. Dem Autor ist zu wünschen und ich wünsche es ihm, dass er seine Vorstellung von Literatur, die ironisch-analytisch das Leben begleitet, weiter verfolgt, ohne auf wirkungslose Anerkennung oder willkürlich verschleuderte Preise zu achten. Denn: So ereignet sich Zensur heute. Im Fernsehen heißt das „programmtreu“, wie Hein an dem Beispiel des 4. November 1989 beschreibt. Aber er schreibt auch über genügend Beispiele, bei denen es um Kultur ging, aber alles so verlief wie „in Clausewitz, ‚Über das Kriegshandwerk’“.