Wenn jede Verletzung des Eigentums Diebstahl wäre, dann wäre alles Privateigentum geklaut

Holz zocken und Containern mit Marx

Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war es am 25. November ganze 14 Zeilen auf Seite 7 wert. Unter der Überschrift „Armut in Deutschland stark gewachsen“ berichtete sie über eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, nach der die Armut im vergangenen Jahrzehnt „deutlich zugenommen“ habe. Die Quote der „sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben“, sei „zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent gestiegen“, wird dort zusammenfassend gemeldet.

Wohlgemerkt: Dies ist eine Studie, die den jüngsten Verarmungsschub, die heftige Inflation und andere Folgen des Wirtschaftskrieges gegen Russland, die sich insbesondere seit dem Frühjahr 2022 in unserem Land entfalten, noch gar nicht abbildet. Es kann als sicher gelten, dass – kaum gedämpft durch die verschiedenen Wumms- und Doppelwumms-Pakete der Bundesregierung – diese Quote im Winter 2022/23 weiter dramatisch zunimmt.

Damit wird in diesen kalten und elenden Wochen, denen viele Menschen mehr entgegenbangen, als sie sich dem Kerzenschein am Weihnachtsbaum entgegensehnen, und vor allem in den folgenden dunklen Januar- und Februartagen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Diebstahl zunehmen. Diebstahl abgelaufener Lebensmittel oder auch von Wärme spendendem Gas, von Briketts oder der Diebstahl von Strom. Einige von denen, die die horrend gestiegenen Kosten für Wärme und Licht nicht mehr aufbringen können, werden zugreifen, wenn sie können.

Abzapfen und Lebensmittel retten verboten

Die Rechtslage in Deutschland ist eindeutig: Alles das – Containern von Lebensmitteln, Abzapfen von Strom oder Gas, Kohlenklau – ist verboten. Es wird nach Paragraph 242 Strafgesetzbuch verfolgt und bestraft.

Wie ist die Position derer, die sich in der Tradition von Marx und Engels sehen, zu dieser Frage der Strafwürdigkeit von Diebstahl beispielsweise abgelaufener Lebensmittel?

In der „Rheinischen Zeitung“ erschien am 25. Oktober 1842 mit der Autorenangabe „Von einem Rheinländer“ ein Artikel zu den „Debatten über das Holzdiebstahlgesetz“. Er stammt von Karl Marx. Er berichtete in späteren Jahren den Worten seines Freundes Friedrich Engels zufolge „mehr als einmal, ‚dass gerade das Studium des Holzdiebstahlgesetzes und die Erforschung der Lage der Moselbauern‘ ihn angeregt habe, von der reinen Politik zu den ökonomischen Verhältnissen und damit zum Sozialismus überzugehen“.

Karl Marx über Raff- und Totholz

Dieses damals verhandelte Holzdiebstahlgesetz beinhaltete eine Verschärfung der Strafen für diejenigen, die vor allem in den Wintermonaten Totholz oder – wie es damals hieß – Raffholz aus den Wäldern sammelten, um zu Hause zu kochen und sich wärmen zu können. Marx verweist darauf, dass nach den aus dem Mittelalter überkommenen Rechtsvorschriften zwar das Schlagen und Entwenden von frischem Holz oder auch das Entwenden geschlagenen und im Wald lagernden Holzes bestraft wurde, nicht aber das Entwenden von Totholz: „Die hochnotpeinliche Halsgerichtsordnung subsumiert unter dem Holzdiebstahl nur das Entwenden gehauenen Holzes und das diebische Holzhauen. … (Sie) fordert uns auf, sie vor dem Tadel übertriebener Humanität gegen einen rheinischen Landtag des 19. Jahrhunderts in Schutz zu nehmen … Sammeln von Raffholz und der kombinierteste Holzdiebstahl! Eine Bestimmung ist beiden gemein. Das Aneignen fremden Holzes. Also ist beides Diebstahl. Darauf resumiert sich die übersichtige Logik, die soeben Gesetze gab.“

Der damals noch nicht 25-jährige Karl Marx arbeitet dann den Unterschied von frisch geschlagenem und totem Holz heraus, um daraus bis heute allgemeingültige Überlegungen zum Eigentumsbegriff abzuleiten:

„Wir machen daher zunächst auf den Unterschied aufmerksam … Um grünes Holz sich anzueignen, muss man es gewaltsam von seinem organischen Zusammenhang trennen. Wie dies ein offenes Attentat auf den Baum, so ist es durch denselben ein offenes Attentat auf den Eigentümer des Baumes.

Wird ferner gefälltes Holz einem Dritten entwendet, so ist das gefällte Holz ein Produkt des Eigentümers. Gefälltes Holz ist schon formiertes Holz. An die Stelle des natürlichen Zusammenhanges mit dem Eigentum ist der künstliche Zusammenhang getreten. Wer also gefälltes Holz entwendet, entwendet Eigentum.

Beim Raffholz dagegen wird nichts vom Eigentum getrennt. Das vom Eigentum getrennte wird vom Eigentum getrennt. Der Holzdieb erlässt ein eigenmächtiges Urteil gegen das Eigentum. Der Raffholzsammler vollzieht nur ein Urteil, was die Natur des Eigentums selbst gefällt hat, denn ihr besitzt doch nur den Baum, aber der Baum besitzt jene Reiser nicht mehr.“

Diese schlagende Logik setzte sich politisch damals nicht durch – und die kalte Strafverschärfung des Kapitalismus selbst gegenüber dem Feudalismus wirkt bis heute.

Warnung vor Holzdieben 2022

Es ist wohl kein Zufall, dass die einschlägigen Internetseiten zum Thema „Holzdiebstahl“ just in diesem Herbst aktualisiert worden sind. Wer dieses Wort bei Google eingibt, erfährt unter dem Datum vom 8. September 2022 folgendes: „Die Inflation und die steigenden Gaspreise bewegen die Menschen dazu, sich nach alternativen Heizmethoden umzusehen. Kamin- und Holzöfen werden dieser Tage immer beliebter, doch das Holz ist knapp. So manch einer kommt da auf die Idee, einfach in den Wald zu gehen und sein Brennholz selbst zu sammeln. Doch das ist Holzdiebstahl und kann Strafen nach sich ziehen!“

Aufgeführt werden dann die verschiedenen einschlägigen Landes- und Bundesgesetze, die so zusammengefasst werden: „Das unerlaubte Sammeln von Totholz kann mit einem Bußgeld von bis zu 25 Euro geahndet werden. Wer ohne Erlaubnis eine größere Menge an Brennholz im Wald sammelt, begeht eine Straftat (Holzdiebstahl), die mit einer Geldstrafe von bis zu 100.000 Euro oder Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden kann.“

Ähnlich harsch ist das Ergebnis einer vor einigen Jahren im Gefolge des Krisenschubs nach 2007 geführten Debatte um das Containern, also das Entwenden von Lebensmitteln, die von den Besitzern dieser Lebensmittel – häufig Lebensmittelkonzerne wie Aldi oder Lidl – weggeworfen wurden. Hier gilt im Grundsatz die Marxsche Argumentation: Dieses ehemalige Eigentum ist in diesem Falle zwar nicht von der Natur, aber vom alten Eigentümer selbst von ihm getrennt worden – nämlich durch Wegwerfen. Dieser Logik folgend haben in der Vergangenheit vor allem junge Menschen in den Großstädten sich dieser weggeworfenen Lebensmittel angenommen, indem sie sie aus den Containern entnommen und ihrem sinnvollsten Verbrauch, dem Verzehr, zugeführt haben.

Das ist ihnen nicht gut bekommen. Gestützt auf die geltenden Regeln des Strafgesetzbuches heißt es bei „Wikipedia“ zu diesem Vorgehen: „In Deutschland wird Abfall, der in entsprechenden Behältern auf privaten Grundstücken wie zum Beispiel Supermärkten oder Fabriken gesammelt und den kommunalen und privaten Städtereinigungsbetrieben zur Entsorgung bereitgestellt wird, nach dem Abfallrecht bis zur Abholung dem Eigentum des Abfallbesitzers bzw. Grundstückseigentümers zugerechnet, danach dem des Entsorgungsträgers. Damit handelt es sich nicht um eine Sache, deren Eigentum aufgegeben wurde (…) und deren man sich als herrenlose Sache aneignen darf.“

Wenn Aldi und Lidl Nahrung vernichten

In der Rechtsprechung gibt es mal Verurteilungen zu Geldbußen oder in einem dokumentierten Fall sogar zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren, mal Einstellungen des Verfahrens, weil die Eigentümer der weggeworfenen Lebensmittel ihren zunächst gestellten Strafantrag zurückgezogen hatten – aber das Schwert hängt weiter über jedem Mann und jeder Frau, die den bohrenden Hunger an den lockenden Bergen noch haltbarer Lebensmittel am nächsten Supermarkt stillen wollen.

Nicht nur denen, die so etwas tun, sondern auch denen, die vor lauter Verzweiflung Gas oder Strom konsumieren, das oder den sie aufgrund der politischen Entscheidungen der Bundesregierung nicht mehr bezahlen können, und sich dann der Strafverfolgung ausgesetzt sehen, sind gute Rechtsanwälte zu wünschen – gegen die bestehende Rechts(un)ordnung werden sie letztlich aber nicht ankommen und auf Gnade plädieren müssen.

Es wäre daher hohe Zeit, die Debatten um das heilige Eigentum wieder aufzunehmen. Dazu gehört in einer Erweiterung zum Beispiel auch die Abwägung zwischen dem Recht auf ungestörte Nutzung klimaschädlicher Flughäfen durch die Eigentümer dieser Flughäfen und dem Recht auf Widerstand gegen die Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen künftiger Generationen, indem sie wenigstens zeitweise und symbolisch in dieses heilige Eigentumsrecht der Flughafenbetreiber eingreifen.

Wäre nicht alles Privat­eigentum Diebstahl?

In solchen Debatten hilft die parteiliche Schärfe weiter, mit der der damals noch ganz junge Marx die Debatte um das Holzdiebstahlgesetz 1842 auf eine ganz prinzipielle Frage zuspitzt, die er so formulierte:
„Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist. Indem ihr die Kategorie des Diebstahls da anwendet, wo sie nicht angewendet werden darf, habt ihr sie auch da beschönigt, wo sie angewendet werden muss.

Und hebt sich diese brutale Ansicht, die nur eine gemeinschaftliche Bestimmung in verschiedenen Handlungen festhält und von der Verschiedenheit abstrahiert, nicht selber auf? Wenn jede Verletzung des Eigentums ohne Unterschied, ohne nähere Bestimmung Diebstahl ist, wäre nicht alles Privateigentum Diebstahl? Schließe ich nicht durch mein Privateigentum jeden Dritten von diesem Eigentum aus?

Verletzte ich also nicht sein Eigentumsrecht?

Und er postuliert schließlich: „Wir unpraktische Menschen aber nehmen für die arme politisch und sozial besitzlose Menge in Anspruch, was das gelehrte und gelehrige Bedienertum der sogenannten Historiker als den wahren Stein der Weisen erfunden hat, um jede unlautere Anmaßung in lauteres Rechtsgold zu verwandeln. Wir vindizieren der Armut das Gewohnheitsrecht, und zwar ein Gewohnheitsrecht, welches nicht lokal, ein Gewohnheitsrecht, welches das Gewohnheitsrecht der Armut in allen Ländern ist. Wir gehen noch weiter und behaupten, dass das Gewohnheitsrecht seiner Natur nach nur das Recht dieser untersten besitzlosen und elementarischen Masse sein kann.“

Daraus wurde später, im „Kommunistischen Manifest“, die über den ganzen Erdball verbreitete Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ – sie ist aktuell wie eh und je und angesichts der gegenwärtigen Zuspitzung der Lage der Besitzlosen vielleicht sogar aktueller denn je.

Der Text von Manfred Sohn erschien samt Fußnoten und Textquellen zuerst auf der Homepage der Marx-Engels-Stiftung in der Rubrik „Marx und Engels aktuell“. Dort gibt es monatlich neue Beiträge. Ein Blick auf die Seite lohnt sich: marx-engels-stiftung.de

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"Holz zocken und Containern mit Marx", UZ vom 23. Dezember 2022



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