Dieser Beitrag erschien zuerst in der UZ vom 14. Januar 2022.
In Hamburg gibt es eine kleine Straße mit dem lustigen Namen Rutschbahn. Seinerzeit wohnte ich dort in einer Wohngemeinschaft mit Genossen und Genossinnen aus dem MSB Spartakus. Hier fanden unsere Mitgliederversammlungen und viele Feste statt. In der Rutschbahn gab es gleich zwei türkische Lokale. Die Gerichte waren sehr schmackhaft und für uns Studenten durchaus bezahlbar. Zwei Straßen weiter prangte eines Tages über einer Haustür das Schild: Elefantenpress-Galerie. Auch ein lustiger Name, lachten wir. Im Fenster daneben hing ein Plakat: „Renzo Vespignani – Über den Faschismus“. Das machte uns neugierig, und wir betraten die kleine Galerie. Die Ausstellung zeigte nicht nur Bilder des italienischen Malers Vespignani, sondern auch Fotos aus der Zeit des deutschen und italienischen Faschismus, dazu Texttafeln, die Fragen aufwarfen, warum ein faschistisches System in Deutschland möglich war und wie es funktionierte. Wir von der Rutschbahn diskutierten alsbald sehr laut und heftig, gaben uns äußerst fachmännisch und wichtig. Das lockte anscheinend den Besitzer der Galerie aus seinem dem Ausstellungsraum angrenzenden Büro heraus. Schmunzelnd fragte er uns, ob wir vom Fach seien, also Kunst oder Geschichte studierten. Ich erklärte ihm freimütig, dass ich gerade mein Schauspielexamen an der Hamburger Musikhochschule abgelegt hätte mit einem selbst erarbeiteten Lieder- und Gedichteabend: „Krieg dem Kriege“.
Na, dann kannst du ja zur Eröffnung unserer nächsten Ausstellung Gedichte von Nâzim Hikmet vortragen!
Nâzim Hikmet? Der große türkische Dichter!
Er eilte zurück in sein Büro und kam mit einem dicken Bildband wieder: „Sie haben Angst vor unseren Liedern“, stand auf der Vorderseite. Und auf der Rückseite:
Leben
einzeln und frei
wie ein Baum
und brüderlich
wie ein Wald
das ist unsere Sehnsucht.
Ganz angetan von diesen Zeilen schlug ich das Buch auf, und ein sehr liebes Gesicht mit einem verschmitzten Lächeln blickte mich an: Nâzim Hikmet.
Also, kann ich mich darauf verlassen?, fragte der Galerist. Unbedingt, versicherte ich, das ist eine wunderbare Herausforderung.
Zuhause in der Rutschbahn vertiefte ich mich sofort in das Buch und stieß auf das Gedicht „Mein Lebenslauf“, geschrieben 1961 in Berlin, zwei Jahre vor seinem Tod.
1902 bin ich geboren …
mit 19 Jahren
habe ich in Moskau an der Kommunistischen Universität studiert;
30 Jahre später
war ich in Moskau als Gast des ZK der Partei;
seit meinem 14 Lebensjahr schreibe ich Verse;
manche Menschen kennen die Arten der Gräser oder der Fische,
ich kenne die Arten der Einsamkeit;
manche wissen die Namen der Sterne
ich weiß die Namen der Sehnsucht;
ich war in Kerkern und Grand-Hotels,
ich hungerte oft, machte auch Hungerstreik
und lernte manche Speisen nicht kennen;
mit 30 sollte ich hängen;
mit 48 sollte ich den Friedenspreis bekommen
und bekam ihn auch; …
Lenin habe ich nicht mehr erlebt,
doch ich hielt Wache an seiner Bahre 1924; …
man wollte mich trennen von meiner Partei,
es ist nicht gelungen; …
ich bin stolz, dass ich mein Brot
immer im Schweiß meines Angesichts verdiente; …
was viele schätzen,
habe ich gemieden seit meinem 21. Lebensjahr:
Moscheen, Kirchen und Tempel, Synagogen und Zauberer,
doch hin und wieder ließ auch ich mir den Kaffeesatz deuten;
meine Bücher erscheinen in 30 bis 40 Sprachen,
nur in meiner Türkei,
in meinem Heimatland, sind sie verboten.
Das Gedicht endet mit den Zeilen:
Mit fast 60 Jahren habe ich mich verliebt …
kurzum, Genossen,
sollte ich heute, hier in Berlin, vor Kummer zugrunde gehen,
könnte ich sagen:
ich habe menschlich gelebt auf dieser unserer Erde,
und wer weiß,
wie lange ich noch lebe
und was ich noch alles erleben werde.
In dem Buch waren auch Interviews mit dem Dichter abgedruckt, in einem erklärt er, dass er stolz darauf sei, sein Hirn, sein Herz, seinen Bleistift und sein ganzes Leben seinem Volk gewidmet zu haben.
Das alles und seine wunderschönen Gedichte nahmen mich gänzlich für ihn ein.
Fünf Tage später hatten wir MSB-Gruppenabend in der Rutschbahn, und ich überfiel gleich zu Anfang meine Spartakisten mit der Frage: Kennt ihr den türkischen Dichter Nâzim Hikmet? Ein Kommunist, war lange Jahre in Moskau im Exil, wurde schon mit 18 Jahren wegen seiner politischen Gedichte verfolgt, weil er schonungslos die Widersprüche zwischen Arm und Reich aufzeigte, schwärmte ich.
Aller Reichtum der Erde kann ihren Durst nicht stillen.
Sie wollen eine Masse Geld machen.
Du hast für sie zu töten,
du hast für sie zu sterben
damit sie eine Masse Geld machen können.
Hat er auch was über die Frauen geschrieben?, wollte unsere Feministin wissen.
Aber ja! In seinem großen Epos über den Befreiungskampf hat er ein ganzes Kapitel den Frauen gewidmet. Da beschreibt er sehr eindringlich die türkischen Frauen, die auf ihren Ochsenkarren die Granaten transportieren:
Frauen, die sterben, ohne gelebt zu haben,
und deren Platz am Esstisch erst nach unserem Ochsen kommt
und die wir auf die Berge entführen,
derentwegen wir im Gefängnis sitzen …
Außerdem gibt es wunderschöne Liebesgedichte von ihm:
Wie man das Brot salzt und isst,
so liebe ich dich …
Als flöge ich über den Ozean zum ersten Mal,
so liebe ich dich.
Hat er auch was geschrieben, das passen könnte für unsere Veranstaltung gegen die Berufsverbote?, wollte unser Vorstand wissen.
Viel, ganz viel, prahlte ich, er saß ja 40 Jahre in türkischen Gefängnissen. Und nach 40 Tagen in völliger Dunkelheit schrieb er:
Heute ist Sonntag.
Denn heute haben sie mich aus der Nacht
zum ersten Mal an die Sonne gebracht,
und ich, im Leben zum ersten Mal
erkannte das hohe Gesicht des Himmels:
So weit von mir.
So hoch und tief und blau …
Die Erde, ich und das Licht.
Nur Glück.
Also, fragte unser Vorstand, dann übernimmst du den Kulturbeitrag?
Damit hatte ich meine zweite Nâzim-Hikmet-Rezitation in der Tasche.
Endlich war der Tag meiner Lesung in der Elefantenpress-Galerie da. Was war ich aufgeregt! Bei meinem Abschlussexamen hatte mich die Gruppe Hinz & Kunst musikalisch unterstützt, aber jetzt war ich zum ersten Mal ganz allein auf mich gestellt. Der Ausstellungsraum war proppenvoll. Viele hatten nur noch auf dem Boden Platz gefunden. Ich begann meinen Vortrag mit einem Text von Pablo Neruda, der von Nâzim Hikmets Gefangenschaft auf einem Marineschiff erzählt, davon, wie Hikmet in eine Latrine gesteckt worden war, „wo die Exkremente einen halben Meter den Boden bedeckten. Mein Dichterbruder fühlte sich einer Ohnmacht nahe“, schreibt Neruda. „Der Pestgestank nahm ihm die Sinne. Dann dachte er: Die Henker beobachten mich von irgendwo her, sie wollen mich sinken sehen, sie wollen sich an meinem Unglück weiden. Und mit seinem Stolz kehrten seine Kräfte zurück. Er fing an zu singen, erst leise, dann lauter, schließlich aus voller Kehle. Er sang alle Lieder, alle Liebesverse, deren er sich erinnerte, seine eigenen Gedichte, die Romanzen der Bauern, die Kampfhymnen des Volkes. Er sang alles, was ihm einfiel; so triumphierte er über Kot und Martyrium.“
In der Galerie war es mucksmäuschenstill geworden. Ich trug elf Gedichte von Nâzim Hikmet vor und endete mit dem Gedicht, das der Ausstellung den Namen gegeben hatte: „Sie haben Angst vor unseren Liedern.“ Dieses Gedicht sollte gut 40 Jahre später für mich noch eine ganz persönliche Bedeutung bekommen.
All die Jahre war Nâzim Hikmet seither mein ständiger Begleiter. Ich trug seine Gedichte auf Ostermärschen, auf 1.-Mai-Veranstaltungen vor, ich gab in Zürich und München zusammen mit jungen, türkischen Saz-Spielern Nâzim-Hikmet-Abende, und schließlich konnte ich den Komponisten Christof Herzog dazu überreden, Nâzim-Hikmet-Gedichte zu vertonen. Eine seiner ersten Vertonungen war „Das kleine tote Mädchen“. Nâzim Hikmet schrieb das Gedicht ein paar Jahre nach dem Abwurf der Atombombe durch die US-Regierung auf Hiroshima. Ein siebenjähriges Mädchen sammelt Unterschriften: „Ich klopf an deiner Türe an“, und wünscht sich anstatt zu atomarem Staub zu verfallen: „dass es nie mehr Kinder trifft, / dass nie mehr Kinder verbrennen / und dass sie Bonbons essen können“.
Herzog schrieb dazu eine ganz einfache Melodie, einem Kinderlied ähnlich, das die Anmut und Naivität des Textes wunderbar unterstreicht.
Auf einer Mahnwache für Julian Assange sang ich kürzlich Herzogs Vertonung von „Mein Herz“. Nâzim Hikmet hatte es für 15 seiner Freunde und Genossen geschrieben. Sie waren von der türkischen Regierung bestialisch gefoltert und danach im Schwarzen Meer ertränkt worden.
Ich blute aus 15 Wundern,
in meine Brust stieß man 15 Messer
mit schwarzem Knauf,
doch mein Herz schlägt weiter,
es hört nicht zu schlagen auf …
Herzogs Musik unterstreicht eindringlich die beiden widerstreitenden Gefühle, Trauer und Schmerz einerseits und andererseits das Aufbäumen und die Entschlossenheit, weiter zu kämpfen:
Wie eine blutrote Fahne
lodert mein Herz,
lodert hoch hinauf.
In dem Gedicht „Die Hungerarmee marschiert“ hat Nâzim Hikmet die großen Flüchtlingswellen unserer Tage vorausgesehen. Er beschreibt die Millionen Menschen, die sich mit blutigen Füßen auf den Weg machen, um dem Hunger zu entkommen. Aber er bleibt nie bei der bloßen Beschreibung des Elends oder des Schmerzes oder eines Vorkommnisses stehen. Seine Hungerarmee ist angetreten, den Verursachern des Hungers die Rechnung auszustellen. Denn dieser Hunger könnte beseitigt werden, er ist kein Naturgesetz. Um diesen Gedanken zu betonen, legte Herzog dem Lied einen vorwärtsdrängenden, aufwärtstreibenden Rhythmus zugrunde mit einem zuversichtlichen Gestus.
In fast allen Gedichten von Nâzim Hikmet ist der Hoffnungsgedanke präsent. Ganz besonders natürlich in dem Gedicht „Hoffnung“. Es beginnt mit der immer wiederkehrenden Zeile:
Atomreaktoren arbeiten ununterbrochen,
künstliche Monde ziehen an der steigenden Sonne vorbei.
Nâzim Hikmet stellt hier das harte Leben der kleinen Leute sowie Folter, Hungertod und Atomkriegsgefahr dem technischen Fortschritt gegenüber, der im Kapitalismus die Gefahr der Zerstörung der menschlichen Produktions- und Lebensverhältnisse in sich trägt, und fragt am Schluss: „Bei Sonnenaufgang soll keine Hoffnung sein?“
Und er weiß: „Die Hoffnung liegt im Menschen allein.“
Herzogs Musik hat teilweise einen maschinenartigen Charakter und dann wieder den Gestus des Aufbegehrens, der Empörung und des Angriffs.
Aber nun wollte ich ja noch meine ganz persönliche Geschichte mit dem Gedicht „Sie haben Angst vor unseren Liedern“ erzählen: Christof Herzog hatte inzwischen so viele Gedichte von Nâzim Hikmet vertont, dass wir für Anfang Mai 2020 den Leuten von der Regenbogenfabrik in Berlin einen Nâzim-Hikmet-Abend vorschlugen. Auch in den Räumen der DIDF Berlin, der Föderation demokratischer Arbeitervereine, planten wir eine Veranstaltung. Ja, und dann kam Corona, und dann kam der Lockdown. Und dann passte Nâzim Hikmets Gedicht haarscharf:
Sie lassen uns unsere Lieder nicht singen …
Sie haben Angst vor der Morgendämmerung,
Angst zu sehen, Angst zu hören, Angst zu berühren …
Angst zu weinen, Angst zu lachen, Angst zu lieben …
Der Text drückt, man kann fast sagen, ironisch mitfühlend, das Bedauern über die Zurückgebliebenheit der herrschenden Klasse aus:
Angst vor dem fließenden Wasser …
Denn eine Freundeshand …
hat sich nicht wie ein warmer Vogel auf ihre Hand gesetzt …
Sie haben Angst vor der Hoffnung.
Aber wir ließen uns nicht mundtot machen, wir nahmen die Lieder im Studio auf, und so kam unsere CD „Brüderlich wie ein Wald“ zustande.
Erst jüngst ist mir aufgegangen, was für ein großer Dialektiker Nâzim Hikmet war. Immer beschreibt er die zwei Seiten einer Medaille. „Die Meisten“ ist eine Gegenüberstellung derjenigen, die im Überfluss leben, und der sich abrackernden Menschen, die trotz aller Schufterei nicht einmal Glas für die Fenster haben.
Sie leben allein von der Hoffnung.
Das sind die Meisten.
Ach, ich könnte noch seitenlang weiter schreiben über diese wunderschönen Gedichte und Lieder von Nâzim Hikmet. Vielleicht habe ich eine Leserschaft, die ihn bisher noch nicht kannte, auf ihn aufmerksam gemacht, oder die, die ihn schon kennt, verführt, sich mal wieder ein Nâzim-Hikmet-Gedicht vorzunehmen. Eine Möglichkeit wäre, unseren YouTube-Kanal zu besuchen. Dort findet man „Mein Herz“, „Das kleine tote Mädchen“, „Die Hungerarmee“ und das lustige Lied „Jelängerjelieber“ von einem Riesen, der keinen Platz findet in dem Gärtchen seiner winzigen Frau. Unsere CD gibt es im UZ-Shop.