Über das Spiel mit den Grundrechten

Höhere Staatskunst

Wenn der Inzidenzwert an fünf aufeinanderfolgenden Tagen unter 100 liegt, darf die bundesweite „Notbremse“ wieder ausgesetzt werden. Hamburg, München, Berlin – in vielen Regionen schauen die Menschen nun auf die Zahlen, denn mit ihnen fallen auch die nächtlichen Ausgangssperren. Ein Großteil hat zwar laut Umfragen festgestellt, dass ihr Alltag durch die Maßregelungen kaum beeinflusst ist, ein krasser Eingriff in die Grundrechte sind sie dennoch.

In Anlehnung an den Notstands-Sheriff Markus Söder aus Bayern können die Verordnungen und die Debatten der Polit-Illustrierten durchaus als „staatsbürokratische Formulierungskunst“ gewürdigt werden. Die Regierung schützt die kapitalistische Grundfreiheit, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, ohne es auszusprechen. Diese Freiheit ist in diesem System unantastbar. Selbst globale Pandemien haben sich ihr unterzuordnen. Anstatt in die Verfügungsgewalt des Kapitals einzugreifen, greift das Kapital in unsere Bewegungsfreiheit ein – begründet mit dem Inzidenzwert. Mit ihm wird fröhlich jongliert. So entsprach der Wert von 165 für die Kita-Öffnung etwa dem Wert zur Zeit der Regierungsbesprechung.

Wundern tun sich viele. Zu Recht erwarten sie von diesem Staat, dass er ihre Gesundheit schützt. Da stoßen Bereicherungen von Abgeordneten am Maskenverkauf oder „Corona-Partys“ des Gesundheitsministers Jens Spahn zum Eintreiben von privaten Spenden gelinde gesagt auf Unverständnis. Die nächtliche Ausgangssperre rundet die Reihe logischer Widersprüche im Corona-Management der Regierenden ab. Sie schafft Skepsis und Misstrauen.

Dass über Öffnungsschritte diskutiert werden muss, liegt auf der Hand. Seit Monaten finden Öffnungskonzepte keine Anwendung, ganze Berufsbranchen sind weiterhin eingeschränkt und die Belastung vor allem für Lohnabhängige mit Kindern ist brutal.

Solange die Regierenden nicht den politischen Willen aufbringen, die Impfquote schnellstmöglich nach oben zu schrauben, stellt sich bei allen Maßnahmen die Frage, worum es eigentlich geht: Um Pandemiebekämpfung oder um den Ausbau staatlicher Kontrolle? Solange sich Beschäftigte in Krankenhäusern, Schulen, Kitas, Büros und Fabrikhallen infizieren, ist die „nationale Herausforderung“ der Corona-Strategie von Bund und Ländern vor allem eins: Wahlkampf durch Angstmache.

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"Höhere Staatskunst", UZ vom 14. Mai 2021



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