Der 25. Oktober 2020 wird in die Geschichte Chiles als der Tag eingehen, an dem die Pinochet-Diktatur endgültig beendet wurde. Drei Jahrzehnte nach der Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie und 14 Jahre nach dem Tod des Diktators stimmten die Chilenen am vergangenen Sonntag mit überwältigender Mehrheit dafür, die 1980 von der faschistischen Militärjunta erlassene Verfassung aufzuheben und durch eine neue zu ersetzen.
5,9 Millionen Menschen – 78,27 Prozent der Teilnehmenden – kreuzten „Apruebo“ an – „Ich stimme zu“. Nur 1,6 Millionen beziehungsweise 21,73 Prozent lehnten die Überwindung der alten Verfassung ab. Das Votum für eine neue Verfassung war erwartet worden, Umfragen hatten in den Wochen zuvor Werte von bis zu 80 Prozent Zustimmung ermittelt. Unklar war aber, wie die zweite Frage beantwortet werden würde. Die Regierung des Präsidenten Sebastián Piñera hatte vorgeschlagen, nur die Hälfte der Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung direkt durch das Volk wählen zu lassen. Die andere Hälfte sollte vom Parlament bestimmt werden, in dem rechte Parteien die Mehrheit haben. Dagegen unterstützte die Opposition den Vorschlag, den gesamten Verfassungskonvent mit direkt gewählten Abgeordneten zu besetzen. Dem stimmten schließlich 79 Prozent der Chilenen zu – gegenüber 21 Prozent, die der Exekutive folgen wollten.
Der Ausgang des Plebiszits ist nicht nur ein Sieg über das Erbe der Faschisten, die sich am 11. September 1973 an die Macht geputscht und den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende ermordet hatten. Es ist auch ein wichtiger Erfolg über Piñera, der sich gegenüber den demokratischen Forderungen der Bevölkerung taub stellt. Fast genau ein Jahr nach dem Beginn der Massenproteste, deren Auslöser die Erhöhung der Fahrpreise in der Metro von Santiago de Chile gewesen war, haben Millionen Menschen mit ihrer Stimme gezeigt, dass die Demonstrierenden für eine große Mehrheit der Bevölkerung stehen. Trotzdem versuchte sich der Staatschef nach Bekanntwerden der Ergebnisse an die Spitze der Bewegung zu setzen: „Bisher hat uns die Verfassung gespalten“, erklärte er in einer Fernsehansprache. „Ab jetzt arbeiten wir gemeinsam an einer neuen Verfassung, die den Rahmen für Einigkeit, Stabilität und Zukunft setzen wird.“
Zehntausende versammelten sich am Sonntagabend im Zentrum von Santiago auf dem „Platz der Würde“ (Plaza de la Dignidad), wie die Plaza Italia seit Beginn der Großdemonstrationen genannt wird. Auch in anderen Städten jubelten unübersehbare Menschenmengen, gab es Feuerwerk und Musik. Der kommunistische Bürgermeister von Recoleta im Norden der Hauptstadt Santiago, Daniel Jadue, erklärte, dass das Ergebnis eine neue Etappe in der Geschichte Chiles eröffne, in der es nun darum gehe, das Modell der künftigen Entwicklung des Landes festzulegen. Jadue, der von manchen als möglicher Präsidentschaftskandidat der Opposition gehandelt wird, betonte die Bereitschaft seiner Partei, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten – auch wenn dieses Angebot von anderen nicht akzeptiert werde. Trotzdem habe der Ausgang des Referendums gezeigt, dass die Opposition geeinter sei als die Rechte, denn diese habe sich gespalten in Befürworter und Gegner einer neuen Verfassung und in diejenigen, die das Plebiszit insgesamt zurückgewiesen hatten.
Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Guillermo Teillier, sprach von einem überwältigenden Sieg, der ein Ergebnis des seit der Volksrevolte im vergangenen November entwickelten sozialen Kampfes sei. Nun müsse es darum gehen, dass sich der Sieg des Volkes auch in der Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung widerspiegelt. Die Linke müsse mehr als zwei Drittel der Sitze gewinnen, um eine Sperrminorität der Rechten zu verhindern. Diese „Zwei-Drittel-Mauer“ habe in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder die Verabschiedung von Gesetzen verhindert, die im Interesse der breiten Volksmassen gewesen wären.