Am 4. Oktober kündigten die kolumbianische Regierung und die Guerillaorganisation Nationale Befreiungsarmee (ELN) die Fortsetzung ihrer Friedensverhandlungen an, beginnen sollen sie im November. Die Verhandlungen werden begleitet von Kuba, Norwegen und Venezuela. Wenige Wochen nach seiner Amtseinführung setzt der neue kolumbianische Präsident Gustavo Petro damit eines seiner zentralen Versprechen in die Tat um. UZ sprach mit Heike Hänsel, von 2005 bis 2021 Bundestagsabgeordnete für die Partei „Die Linke“, über die neue Regierung Kolumbiens.
UZ: Du warst Anfang August bei der Amtseinführung des kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro in Bogotá. Was hat dich dabei besonders beeindruckt?
Heike Hänsel: Diese Amtseinführung war in vielerlei Hinsicht historisch. Der erste linksgerichtete Präsident in der Geschichte Kolumbiens wurde öffentlich vereidigt. Hunderttausende kamen nach Bogotá, um diesen historischen Moment mitzuerleben. Die Stadt war erfüllt von Hoffnung. Petro ordnete als Erstes an, das Schwert des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar auf den Platz zu tragen und erstmalig der Öffentlichkeit zu zeigen – sehr zum Missfallen des spanischen Königs Felipe, der als einziger Ehrengast sitzen blieb, während das Schwert vorbeigetragen wurde. Ein postkolonialer Affront! Beeindruckend war auch eine weitere Symbolik: Die Präsidentenschleife erhielt Petro von der Tochter des 1990 ermordeten linken Präsidentschaftskandidaten Carlos Pizarro, ehemaliger Anführer der Guerillabewegung M-19, der auch Gustavo Petro angehörte. Beschämend war, dass kein einziger Staatschef oder hochrangiges Regierungsmitglied aus Europa angereist war.
UZ: Neue kolumbianische Vizepräsidentin ist Francia Márquez. Sie schwor bei der Zeremonie, zu arbeiten, „bis Würde zur Gewohnheit wird.“ Was können die Menschen in Kolumbien von ihrer Vizepräsidentin erwarten?
Heike Hänsel: Auch das ist historisch: Mit Francia Márquez wird erstmalig eine afrokolumbianische Frau Vizepräsidentin. Damit wird endlich die am meisten marginalisierte und diskriminierte Bevölkerungsgruppe Kolumbiens hochrangig repräsentiert. Márquez hat soziale Ausgrenzung und Rassismus am eigenen Leib erfahren und als Anwältin und Umweltaktivistin auch direkte Gewalt bis hin zu einem versuchten Mordanschlag erlebt. Sie kennt – wie übrigens viele weitere Regierungsmitglieder – die tödliche Realität Kolumbiens aus der eigenen Biografie und setzt sich daher glaubhaft für ein Ende der staatlichen und paramilitärischen Gewalt ein sowie für einen sozial gerechten Friedensprozess und die Gleichberechtigung von indigenen und afrokolumbianischen Frauen. Sie will eine „Dekolonisierung des Lebens“ erreichen.
UZ: Was hat sich die neue Regierung noch vorgenommen?
Heike Hänsel: Die Regierung des „Pacto Historico“ (Historischer Pakt) hat sich sehr viel vorgenommen und sofort damit angefangen, ihr Programm umzusetzen. Sie haben nur vier Jahre Zeit, der Präsident kann nicht wiedergewählt werden. Es geht um nicht weniger als einen „Paz total“ (umfassenden Frieden) in Kolumbien, der endlich alle bewaffneten Gruppen des sozialen Konflikts demobilisiert – also sowohl Guerillagruppen als auch die weiterhin bestehenden paramilitärischen Verbände und Drogenbanden, die eng verbunden sind mit dem Großgrundbesitz, Unternehmern und ultrarechten Politikern wie dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe. Straflosigkeit und Korruption sollen bekämpft werden, das betrifft auch die Streitkräfte und die Polizei, die für zahlreiche Morde und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Dafür wurde bereits die Führungsebene des Militärs ausgewechselt, die Polizei soll wieder dem Innenministerium unterstellt werden. Und das 2016 abgeschlossene Friedensabkommen mit der Ex-Guerillaorganisation FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens-Volksarmee) endlich umgesetzt werden. Wichtig ist auch der aktive Schutz von sozialen Aktivistinnen und Aktivisten sowie von demobilisierten FARC-Kämpfern, die bisher gezielten Morden ausgesetzt sind.
Die Regierung will eine Reichensteuer einführen, den Mindestlohn erhöhen und Millionen von Hektar Agrarland an Kleinbauern verteilen. Petro will die Freihandelsabkommen neu verhandeln und fordert zudem eine neue internationale Drogenpolitik, die die Kriminalisierung beendet. Die Besprühung von Kokafeldern mit Glyphosat ist bereits eingestellt worden. Auch die US-Drogenbekämpfung im Land soll gestoppt werden. Außenpolitisch hat Kolumbien bereits begonnen, die Beziehungen zu Venezuela wieder zu normalisieren, die Grenzen für die Menschen und den Handel zu öffnen und die unsägliche, von den USA diktierte Regime Change-Politik zu beenden. Auch die NATO-Partnerschaft soll nicht fortgeführt werden. Bei der UN-Generalversammlung forderte der neue Präsident ein 100-Milliarden-Rettungsprogramm für die Amazonasregion statt immer mehr Aufrüstung. Er will sein Land zudem unabhängig von fossilen Energieexporten machen. Das ist nur eine Auswahl aus dem ambitionierten Programm des „Pacto Historico“.
UZ: Kolumbien ist über Jahre hinweg von Reaktionären regiert worden, die eng mit den USA zusammengearbeitet haben. Das angekündigte Programm ist das Gegenteil der bisherigen Regierungspraxis. Vor welchen Gefahren steht die neue Regierung?
Heike Hänsel: Dieses Programm erfordert Mut und Durchhaltevermögen. Die Widerstände gegen das Friedensabkommen mit der FARC, gegen eine Landreform und gegen eine Steuerreform, die endlich auch die reichen Familien im Land zur Kasse bittet, sind gewaltig. Der gesamte staatliche Sicherheitsapparat, der für Massaker und massive Repressionen verantwortlich ist, wird die Umstrukturierung und die Korruptionsbekämpfung nicht einfach so akzeptieren. Die Gefahr ist groß, dass Teile des Militärs mit reaktionären Kräften in der Politik Gewalt und Chaos stiften könnten, um Petro loszuwerden – so, wie wir es in Chile 1973 erlebt haben. Es gibt bereits erste Demonstrationen der eher wohlhabenden, weißen Schicht der Bevölkerung, die Petros Rücktritt fordert. Die großen Medien, alle in Händen reicher Familien, mobilisieren gegen Petros Politik. Die Frage ist, wie sich die US-Regierung dazu verhalten wird, die ja viele US-Soldaten in Kolumbien stationiert hat. Umso wichtiger ist die internationale Unterstützung und Solidarität für den „Pacto Historico“.
UZ: Du hast Kolumbien auf Einladung der neuen Regierung besucht. Gab es noch andere Gäste aus Deutschland? Wie verhält sich die Bundesregierung zu Petro und Márquez?
Heike Hänsel: Ich fand es beschämend, dass aus Deutschland kein Regierungsmitglied und nicht einmal der Botschafter, sondern nur der Erste Geschäftsträger an der Amtseinführung teilgenommen hat. Mein Kollege aus dem Bundestag, Andrej Hunko von der Linksfraktion, sowie einige engagierte KolumbianerInnen waren aus Deutschland angereist. Die Bundesregierung hat noch mit der rechtsgerichteten Vorgängerregierung Duque ein Kohleabkommen zur weiteren Steigerung von Steinkohleexporten nach Deutschland abgeschlossen. Während in den letzten Jahren diese „Blutkohle“ aus der größten Steinkohlemine Lateinamerikas aus menschenrechtlicher und klimapolitischer Sicht deutlich zurückgefahren wurde, hat die Ampel-Regierung nun keine Skrupel mehr, Kohle, die mit Vertreibungen und Morden an Gewerkschaftern verbunden war, zu kaufen – nur um keine Energielieferungen mehr aus Russland zu beziehen. Das ist eine heuchlerische Politik der Doppelstandards. Zudem fällt sie damit auch Präsident Petro und seiner Friedenspolitik in den Rücken, der genau diese Form von fossilen Rohstoffexporten und Gewaltzuständen überwinden will.
Auch ein umstrittenes Militärabkommen, das ausgerechnet letztes Jahr mit Kolumbien abgeschlossen wurde, nachdem die Streitkräfte für massive Gewalt gegen Protestierende verantwortlich gemacht wurden, ist weiterhin in Kraft. Es wird entscheidend sein, dass wir hier Druck ausüben, damit solche Abkommen gestoppt werden und generell eine neue, gerechtere und ökologischere EU-Handelspolitik mit Lateinamerika entwickelt wird.