Steigende Ausbeutung der Natur und technischer Fortschritt gehen im Kapitalismus Hand in Hand

Historischer Materialismus und ökologische Krise

Hans Heinz Holz

„Es mangelt nicht an ökologischen Katastrophenmeldungen und an Zukunftsszenarien, die den Zusammenbruch der Mensch-Natur-Beziehungen prognostizieren. Alle reden von Ökologie. Selbst stramme Verteidiger der Profitwirtschaft versuchen neuerdings, den ihnen bislang suspekt erschienenen Begriff im Rahmen von Konzeptionen einer ‚ökosozialen Marktwirtschaft‘ zu besetzen.“
Mit diesen Sätzen beginnt der 1984 veröffentlichte Band „Dialektik 9. Ökologie – Naturaneignung und Naturtheorie“. Das Mensch-Natur-Verhältnis hat durch die kapitalistische Produktionsweise seit fast einem halben Jahrhundert eine Stufe erreicht, auf der das Überleben der Menschheit in Gefahr ist. Umweltschutzmaßnahmen haben zwar bestimmte Erscheinungen mildern können und in einigen Bereichen zu Verbesserungen geführt – häufig allerdings auf Kosten der werktätigen Bevölkerung oder durch Verschiebung der Probleme in die abhängigen Länder. Wir dokumentieren aus dem Band den Text „Historischer Materialismus und ökologische Krise“ von Hans Heinz Holz. Er hilft, das Mensch-Natur-Verhältnis zu begreifen und den Kampf gegen die „Ökokrise“ einzuordnen in den Kampf gegen die allgemeine Krise des Kapitalismus und für eine sozialistische Gesellschaft. Teil 2 erscheint in der Ausgabe vom 10. Dezember.

Zurück zur Natur?
Die Kritik am technischen Fortschritt und an der industriellen Entwicklung geht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Die Romantik – eine weltanschauliche Bewegung von europäischem Ausmaß – formulierte den Widerspruch zwischen wahrer Menschlichkeit und industrialisierter Verdinglichung des Menschen und bezog diesen Widerspruch auf das normative Ideal der organischen Natur als einer harmonischen Ganzheit, von der sich die Zivilisation diabolisch entfernt habe. Zugleich mit der ersten Phase der industriellen Revolution wird die Natur als ästhetischer Gegenstand und als metaphysisches Subjekt konstituiert. Rousseau denunziert die „gesellschaftliche Ordnung“ als „in jedem Punkt der Natur entgegengesetzt“. […]

Tatsächlich lässt die romantische Naturphilosophie geschichtlich nur die Rückwendung zur vorindustriellen Produktionsweise übrig, und das Gesellschaftsbild der Romantiker ist auf die bäuerlich-handwerkliche Produktionsstufe des Mittelalters samt ihrem feudalistischen Überbau fixiert. Industrie- und Kapitalismuskritik, die bald nach 1800 zu einem der Hauptmotive von Philosophie, Literatur und Kunst werden, gehen bei den Romantikern in das Programm einer alternativen Kultur über, die sich rückwärtsgewandt an einer vergangenen Stufe des menschlichen Naturverhältnisses orientiert und mithin aktuell wirkungslos bleibt. Resignation und Weltflucht, Rückzug in die Innerlichkeit und Erlösungsmystizismus sind die Folgen und prägen weit über die Periode der Romantik hinaus eine weltanschauliche Komponente des bürgerlichen Bewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, die sich neben einem positivistischen Wissenschafts- und Fortschrittsvertrauen (als dem ideologischen Äquivalent der Expansion der technisch vermittelten Ausbeutung der Naturressourcen) ausbildet.

Bedrohung der Gattung
Die romantische wie die positivistische Einstellung zu Wissenschaft und Technik stellen komplementäre Reaktionen auf eine wirkliche Ambivalenz im Naturverhältnis des Menschen dar – eine Ambivalenz, die im Industriezeitalter und unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen mit äußerster Schärfe zutage tritt. Der technische Fortschritt hat nicht nur zu einer ungeheuren Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen geführt, sondern ist auch an Grenzen gestoßen, an denen die Anwendung technischer Möglichkeiten zu Schadensfolgen führen kann, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts von einer qualitativ neuen Größenordnung bis hin zu einer unmittelbaren Bedrohung der Gattung selbst angewachsen sind. Die Gefahr einer globalen Zerstörung des Ökosystems ist eine erstmals in unserer Epoche aufgetretene Begleiterscheinung des technischen Fortschritts, die dessen Sinn ins Gegenteil verkehrt. Naturwissenschaften und Technik scheinen dem Menschen über den Kopf gewachsen. Während in den Jahren nach dem ersten und nach dem zweiten Weltkrieg die Bedrohung durch Technik im öffentlichen Bewusstsein vor allem an der qualitativen wie quantitativen Zunahme der Zerstörungskraft der Kriegstechnik erfahren wurde, sind es jetzt die Schädigungen der Natur schlechthin, die die Menschen beunruhigen. Nicht erst der extreme Ausnahmefall des Krieges, sondern bereits der „normale Alltag“ scheint zur Selbstzerstörung der Menschheit zu führen, ohne dass abzusehen wäre, wie diesem Prozess Einhalt geboten werden könnte. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist prinzipiell gestört. Waldsterben, Verseuchung von Gewässern, einschließlich von Teilen des Weltmeeres (zum Beispiel Ölkatastrophe im Persischen Golf, Verschmutzung der Mittelmeerküsten), Abgasglocken über den Großstädten sind Indizien, die sich unabweislich der Kenntnisnahme aufdrängen. Die Erschöpfung von natürlichen Ressourcen, deren Begrenztheit schon Marx als eine natürliche Schranke der Ausbeutung der Natur notiert hatte, schien mit der Energiekrise (die allerdings keineswegs natürliche, sondern ökonomische Ursachen hatte) in eine nahe Zukunft gerückt zu sein.

Die Symptome der Ökokrise sind vielfältig und bekannt genug, als dass sie hier noch detailliert ausgebreitet werden müssten. Schon eine vortheoretische, deskriptive Darstellung dieser Symptome führt zu der Einsicht, dass diese nicht jedes für sich isoliert betrachtet und bekämpft werden dürfen. Nicht nur bildet die technische Produktion, deren Nebenfolgen naturschädigend wirken, ein komplex vernetztes System von Einzelaktivitäten, die nicht unabhängig voneinander wirksam werden, sondern auch die natürliche Umwelt selbst ist eine Ganzheit von interdependenten Elementen, ein „Organismus“, dessen Teile nicht je einzeln behandelt werden können. Das bedeutet, dass die als „piecemeal engineering“ (Stückwerktechnologie) bezeichnete Praxis gesellschaftlichen Handelns, die auf fallweise Korrektur von Schäden und Verbesserung von Ausgangsbedingungen angelegt ist, angesichts der Komplexqualität des Bereichs, in den eingegriffen wird, scheitern muss; ja sogar mehr: nicht nur scheitern muss, sondern sogar noch weitere unvorhergesehene Schäden anrichten kann. Das wissenschaftstheoretische Instrumentarium der Sozialwissenschaften reicht nicht aus, um diesen eine Richtung und Methode des Vorgehens anweisen zu können. Das positivistische Wissenschaftsverständnis bringt nur partikuläre Verfahren im Umgang mit der Wirklichkeit hervor – einer Wirklichkeit, deren Totalität methodisch abgeblendet und als irrationale Rahmenbedingung behandelt wird. […]

Gesamtzusammenhang
Ein anderes Konzept wäre hingegen das einer allgemeinen Ontologie und Kosmologie, die dem Menschen (der menschlichen Gattung) eine Stellung innerhalb der Natur selbst anweist, ihn mithin als ein Naturwesen, obschon ein ausnehmend besonderes Naturwesen begreift. Dann würde die gegenständliche Tätigkeit des Menschen nicht als Beherrschung und Besitz der Natur (wie bei Descartes), sondern als ein Hinhorchen auf das Wesen der Dinge (Heraklit) verstanden werden. Um die Probleme einer selbstzerstörerisch gewordenen Produktivität richtig sehen zu können, bedarf es offenbar eines Begriffs von Natur und von der Stellung des Menschen in der Natur, der von der herkömmlichen Auffassung der Natur als eines Ausbeutungsobjekts für den Menschen grundsätzlich verschieden ist. Ein solcher Naturbegriff ist sowohl in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ wie im „Kapital“ von Marx und in der „Dialektik der Natur“ von Engels enthalten.

Eine Philosophie, die die gesellschaftlichen Bedingungen der Ökokrise auf den Begriff bringen und nicht nur soziologisch oder sozialphilosophisch erklären will, wird um eine ontologische Bestimmung des menschlichen Naturverhältnisses nicht herumkommen. Die materialistische Dialektik hat dieses Problem im Kontext der „Theorie des Gesamtzusammenhangs“ gestellt und sowohl im Konzept der „gegenständlichen Tätigkeit“ als auch in dem der „Produktionsverhältnisse“ mitgedacht. Darum ist es essentiell, im Marxismus die dialektische Theorie der Natur einzuschließen und ihn nicht auf eine subjektivistische Konstitutionslehre zu reduzieren, die die Mensch-WeltBeziehung allein vom Arbeitsvorgang her bestimmt.

In der Dialektik der Natur als Theorie des Gesamtzusammenhangs erweist sich die Natur als das Ganze und Allgemeine, innerhalb dessen der Mensch als Teil und Besonderes vorkommt. Totalität ist die Natur, insofern in ihr jedes mit jedem und allem in einem universellen Wechselwirkungszusammenhang und Rückkoppelungsbezug steht; Allgemeines ist sie, insofern dieser Zusammenhang in jedem Einzelnen auf besondere Weise reflektiert erscheint. Das Gattungsinteresse der Menschheit fällt also zusammen mit der Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen und mit der Achtung vor dem übergreifenden Gesetz der Wechselwirkung in der Natur. Die Durchsetzung bloß partikularer Interessen muss unausweichlich nicht nur zur Unterdrückung, sondern letztlich zur Gefährdung des Gattungsinteresses insgesamt führen.

Klasseninteressen
Nun gehört es zu der Struktur von Klassengesellschaften, dass in ihnen das Partikularinteresse der herrschenden Klasse gegenüber dem Gattungsinteresse – sei es durch ideologische Hegemonie, sei es durch institutionelle Gewalt – durchgesetzt wird. Die Formationsspezifik der Produktionsverhältnisse manifestiert die historische Bestimmtheit dieses Widerspruchs. Die ökologische Krise und die Perversion des technischen Fortschritts lassen sich demgemäß als Folgen der Herrschaft von Partikularinteressen über das Allgemeininteresse erklären. Nach materialistischer Auffassung ist es die Organisationsform der Produktion und der Aneignung des gesellschaftlichen Produkts, die die allgemeinen Verhaltensweisen der Menschen steuert; diese Steuerung kann nicht einfach durch Bewusstseinsveränderungen außer Kraft gesetzt werden. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein und nicht umgekehrt. Appelle an ökologische Verantwortung und Entwürfe für einen ökologischen Verhaltenskodex mögen zwar die Einsicht in den Grundwiderspruch unserer Epoche – den zwischen dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen – wecken und vertiefen und insofern nützlich sein; ja, sie können sogar zu einzelnen Korrekturen führen, die eine bessere Adaption von Produktion und Konsum an die universellen Naturbedingungen bewirken. Den Typus des Naturverhältnisses, die Ausbeutung der Natur, werden sie nicht verändern. Die vom jungen Marx anvisierte „Resurrektion der Natur“ bleibt im Kapitalismus ein utopisch-moralischer Protest.

Dass das Produktionsverhältnis das Naturverhältnis determiniert, obwohl dieses jenem historisch wie logisch vorangeht, mag verwirrend sein und gibt zu transzendentalphilosophischen Irrtümern Anlass. Der Schein, es sei der Mensch, der die Naturform konstituiere, hat erkenntnistheoretisch seine Formulierung durch Kant gefunden und ist arbeitstheoretisch, in strenger Entsprechung zu Kant, an den Marxismus herangetragen worden. Dieser Schein wird aufgelöst, wenn man an der Auffassung von Marx und Engels festhält, die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation sei ein naturgeschichtlicher Prozess. Die Dialektik von Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit kann dann als eben die ausnehmend besondere Weise der Natürlichkeit des Menschen bestimmt werden: ausnehmend besonders, weil die „natürliche Künstlichkeit“ ein Verhältnis zur Natur charakterisiert, das sich dadurch auszeichnet, dass der Mensch gegen die Natur, in sie eingreifend, seine Lebensbedingungen artifiziell gestaltet – aber immer unter der Voraussetzung, dass ihm die Natur als biologische Grundlage seiner Existenz nicht entzogen wird.

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"Historischer Materialismus und ökologische Krise", UZ vom 3. Dezember 2021



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