Der Historiker Dr. Kurt Gritsch arbeitet als Konflikt- und Migrationsforscher an der Universität Innsbruck. Unter anderem hat der das Buch „Krieg um Kosovo. Geschichte, Hintergründe, Folgen“ (Innsbruck University Press, 2016) veröffentlicht.
Als die NATO am 24. März 1999 mit der Bombardierung Jugoslawiens begann, ging dem weder ein Angriff des Balkanstaats voraus, noch lag eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrats vor. „Wir haben das Recht und die Gerechtigkeit auf unserer Seite“, verteidigte Generalsekretär Javier Solana den Völkerrechtsbruch, den das Bündnis nicht als Werk des Krieges, sondern des Friedens verstanden wissen wollte: Die „Operation Allied Force“ helfe lediglich den Albanern im Kosovo gegen die Unterdrückung durch Serbien, um einen drohenden Völkermord zu verhindern. Westliche Nachrichtenexperten konnten diese These allerdings nicht verifizieren, von einem „neuen Auschwitz“ (so der damalige deutsche Außenminister Fischer) konnte auf der Grundlage der Fakten keine Rede sein.
„Neuer Hitler“
Auch UNO-Generalsekretär Kofi Annan stellte fest, dass Serben und Albaner gleichermaßen die Verantwortung für den jahrelangen politischen Konflikt trügen, der ab 1998 zum Bürgerkrieg eskaliert war. Er rief zu einer politischen Lösung auf, die aber von allen Konfliktparteien – Serbien, UÇK (der albanischen „Befreiungsarmee des Kosovo“) und NATO – ignoriert wurde. Während das transatlantische Bündnis jegliche Verantwortung für die Eskalation dem „neuen Hitler“ Slobodan Miloševic zuschrieb, verhinderten die Luftangriffe indes nicht, dass Hunderttausende sowohl vor serbischen Vertreibungen als auch vor den Bomben flohen. Die NATO wiederum beschloss im April 1999 anlässlich ihres 50. Geburtstags, zukünftig weltweit zugunsten von „unterdrückten Völkern“ einzugreifen. Was die einen als Schritt zur globalen Friedenssicherung begrüßten, kritisierten andere als Verwandlung eines Verteidigungs- in ein Angriffsbündnis und somit als Schritt in Richtung neuer Angriffskriege.
Als Begründung für den Völkerrechtsbruch wurde im Fall Kosovo dezidiert die Geschichte des 20. Jahrhunderts bemüht. Die richtigen Lehren aus der Shoa zu ziehen bedeute, so die einen, jeden „potentiellen Holocaust“ bereits im Ansatz militärisch zu verhindern. Die anderen wiederum kritisierten, dass damit der historische Holocaust seiner Einzigartigkeit beraubt werde, indem er mit zahllosen Bürgerkriegsereignissen weltweit gleichgesetzt werde. Zudem, so der schwer zu entkräftende Einwand der Friedensforschung, könne das Menschenrechtsargument nahezu beliebig verwendet werden, um über ökonomische, strategische und geopolitische Interessen hinwegzutäuschen.
Ein alter Konflikt
Als im Januar 1998 im Kosovo der bewaffnete Widerstand der albanischen UÇK gegen die mehrjährige politische Unterdrückung durch Belgrad massive und überharte serbische Reaktionen provozierte, eskalierte die Situation. Mehr als eine Viertelmillion Flüchtlinge und mehrere hundert Tote sollte der Konflikt bis Herbst 1998 mit sich ziehen. Das Ausbrechen des Bürgerkriegs markierte den Höhepunkt eines langen politischen Kampfes, dessen Wurzeln über 100 Jahre zurückreichen. Als die westliche Öffentlichkeit auf den Konflikt aufmerksam wurde, waren indes zahlreiche Chancen zur Befriedung bereits verspielt und die Fronten verhärtet. Die politische Vertretung der Kosovo-Albaner hatte unter dem Eindruck massiver Repressionen durch Serbien – Entlassungen aus dem Staatsdienst, Schließung albanischer Schulen – zu Beginn der 1990er Jahre die Unabhängigkeit des Kosovo erklärt und eine Schattenverwaltung aufgebaut. Der Bruch war vollzogen: Serbien stimmte selbst unter internationalem Druck nur einer Autonomielösung zu, während die albanische Seite die Eigenstaatlichkeit forderte. Diese sollte sie über mehrere Stationen – gescheiterte OSZE-Vermittlung, NATO-Luftangriffe, einseitige Erklärung der Unabhängigkeit 2008 – schließlich erhalten. Der Konflikt selbst ist jedoch bis heute weder politisch noch wirtschaftlich gelöst.
Autonomie und neuer Nationalismus
Eine erste Autonomie hatte Kosovo unter Jugoslawien in den 1960er Jahren erhalten. 1974 wurde sie durch die Verfassungsänderung zu einer De-Facto-Gleichstellung der Provinz mit den jugoslawischen Teilrepubliken erweitert. Eine Befriedung des Landes erfolgte indes nicht. 1981 forderten nationalistische albanische Studentengruppen an der Universität PriŠtina den Republikstatus. Die jugoslawischen Zentralbehörden schlugen den sich zu einem allgemeinen Aufstand ausweitenden Protest, der auch sozioökonomische Wurzeln hatte, brutal nieder. Tausende wurden zu teils mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Sog der Nationalisierung, der vor den Albanern schon Kroatien im „kroatischen Frühling“ 1971 erfasst hatte und später auch auf Serbien überschwappte, führte schließlich zur Desintegration Jugoslawiens.
Während die kommunistischen Behörden in Belgrad überzogene Proteste von Kosovo-Serben gegen albanische Diskriminierung (es wurde von einem „Genozid an Serben“ gesprochen) 1985 noch als nationalistisch zurückwiesen, änderte sich die Situation durch den Aufstieg Slobodan Miloševics grundlegend. Er ersetzte die an Integrationsfähigkeit verlierende sozialistische Ideologie durch Nationalismus und instrumentalisierte die Kosovo-Frage zur persönlichen Machterweiterung und Machterhaltung. In diesem Klima allgegenwärtiger Neo-Nationalismen im Bundesstaat eskalierte die Situation schließlich 1989 durch die Aufhebung der Autonomie im Kosovo (zusammen mit jener in der Vojvodina).
Terror statt Verhandlung
Am 2. Juli 1990 erklärten 114 kosovo-albanische Abgeordnete die Unabhängigkeit der Provinz. Belgrad ignorierte dies ebenso wie die westliche Staatengemeinschaft. Diese wurde durch den eskalierenden Jugoslawien-Krieg in ihrem Krisenmanagement gefordert, so dass für die berechtigten Anliegen der politisch unterdrückten Albaner kein Platz mehr schien. So blieben letztere auch bei den Friedensverhandlungen von Dayton unberücksichtigt. Dadurch wurde der politische Widerstand der LDK (Lidhja Demokratike e Kosovës, Demokratische Liga des Kosovo) um den späteren Provinzpräsidenten Ibrahim Rugova in den Augen vieler Albaner diskreditiert. Dies förderte den Aufstieg der paramilitärischen Truppe UÇK. Während 1990/91 durch Verhandlungen und internationalen Druck noch die Wiederherstellung der Autonomie im Bereich des Möglichen lag, lehnte später die UÇK einen solchen Kompromiss kategorisch ab. Stattdessen setzte sie auf Eskalation, ermordete gemäßigte, staatsloyale Albaner ebenso wie Serben und provozierte damit, tatkräftig unterstützt vom brutalen Vorgehen der serbischen Antiterroreinheiten gegen die Zivilbevölkerung, eine „humanitäre Katastrophe“, die schlussendlich zur Intervention der NATO führte.
Den Konflikt internationalisieren
Zwar setzte Serbien immer wieder auch kleine Zeichen der Entspannung, in Summe war das Regime aber zu kaum einem Zeitpunkt an weitreichenden Autonomieverhandlungen interessiert. Innenpolitisch wurde die Sozialistische Partei Serbiens von Miloševic in der Kosovo-Frage von der Serbischen Radikalen Partei unter ihrem Vorsitzenden, dem Neofaschisten Vojislav Šešelj, noch an Radikalität übertroffen. Zeitgleich verlor jedoch auch Rugova immer mehr Boden an die UÇK, obwohl man sich nicht im Ziel eines unabhängigen Staates Kosovo, sondern nur in der Wahl der Mittel – die LDK setzte auf Diplomatie, die UÇK auf Terror – unterschied. Die Kosovo-Frage zu internationalisieren verband die beiden innenpolitischen Konkurrenten. Letzteres war wiederum Serbien ein Dorn im Auge: Es lehnte eine internationale Vermittlung lange Zeit ebenso strikt ab wie die Abspaltung des Kosovo.
1998, in einer Zeit, in der zahlreiche Chancen auf eine friedliche Lösung des Konflikts bereits verstrichen waren, mischten sich nun andere, internationale Mächte ein. Eine friedliche, diplomatische Mission mit dem Ziel der Konfliktvermittlung wäre dabei angesichts der starren Haltung Serbiens durchaus sinnvoll gewesen. Dadurch hätte auch eine dauerhaftere Lösung gefunden werden können als die Variante der einseitigen Unabhängigkeit (2008), die bis heute von rund 40 Prozent aller Staaten nicht anerkannt ist.
Und als die NATO sich der Kosovo-Albaner annahm, geschah dies nicht mit dem Ziel der Konfliktvermittlung, sondern aufgrund von wirtschaftlichen, machtpolitischen, geostrategischen und militärischen Interessen. Während die einzige maßgebliche zivile Einmischung, die mit UN-Mandat ausgestattete „Kosovo Verification Mission“ der OSZE, von NATO-Staaten konsequent in ihrem Handlungsspielraum eingeengt und untergraben wurde, bauten insbesondere die USA, Großbritannien und Deutschland, von ihren wichtigsten Massenmedien gestützt, eine Notwendigkeit militärischer Intervention auf, die jeden Kompromiss mit Serbien ausschloss, Miloševic die alleinige Schuld an der Eskalation zuschrieb und die NATO als Lösungsinstanz für ethnische Konflikte vor der UNO aufbaute.
Erpressung von Rambouillet
Im Februar 1999 hatte die westliche Staatengemeinschaft die Konfliktparteien noch nach Rambouillet bei Paris eingeladen, um eine friedliche Lösung zu erzwingen. Die beiden Maximalziele – Unabhängigkeit des Kosovo vs. Verbleib im serbischen Staat – waren jedoch unvereinbar. Vor allem die USA zeigten sich nun parteiisch: Einerseits unterstützten US-Diplomaten die albanische Seite und insbesondere die UÇK, die radikalste Fraktion, andererseits wurde Serbien mit einem nicht verhandelten und nicht verhandelbaren Zusatzprotokoll konfrontiert. Dieser „Annex B“ hätte der NATO u. a. in Artikel 8 erlaubt, sich in ganz Jugoslawien frei zu bewegen, was einer Besatzung gleichkam.
Das Land verweigerte daraufhin, selbst für manche Interventionsbefürworter nachvollziehbar, die Unterschrift. Der Völkerrechtler Christian Tomuschat – der eine Intervention befürwortete – schrieb damals in der „Welt“: „Auf Bedingungen wie den völlig überzogenen Artikel 8 des Annex B zum Rambouillet-Abkommen braucht sich indes keine Regierung einzulassen.“ Der Öffentlichkeit blieb der Grund für das Scheitern der Verhandlungen bis nach Kriegsbeginn allerdings unbekannt.
Was die NATO wollte
Obwohl es friedliche Alternativen gegeben hätte, instrumentalisierten die großen NATO-Staaten einen ethnischen Konflikt zur Durchsetzung ihrer Eigeninteressen. Dazu verbrämte man die Luftangriffe auf Jugoslawien unter Bezugnahme auf die Shoa als gerechten Krieg. Der Schutz der Albaner war Nebensache. Drei wichtige Ziele des Militärpakts lassen sich feststellen: 1. zu zeigen, dass er nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Aufgabe hatte, 2. sich vom Defensiv- zum Interventionsbündnis zu wandeln und 3. der Profit einzelner Mitglieder. Deutschland beispielsweise, das erstmals seit 1945 Krieg führte, gewann außenpolitischen Handlungsspielraum. Den größten Erfolg verbuchten die USA. Ihnen gelang es, ein Exempel zu statuieren: die Lösung der NATO aus dem Veto-Bereich des UN-Sicherheitsrates. Bei Fragen der globalen Sicherheit sollte zukünftig die NATO Vorrang vor der UNO haben. Dass jede militärische Eskalation eines Bürgerkriegs die Anzahl der Toten massiv erhöht, wird dabei ignoriert – im Fall Kosovo hat sie sich durch das NATO-Eingreifen mehr als verzehnfacht. Die bis heute nicht abschließend geklärten Opferzahlen werden für die Zeit ab 24. März 1999 überwiegend mit rund 10000 für alle Ethnien angegeben, während für die Zeit bis 24. März 1999 von unter 1 000 Opfern aller Ethnien die Rede ist.
So wurde der Kosovo-Krieg zum Türöffner für weltweites militärisches Eingreifen der westlichen Staatengemeinschaft, die ihre ökonomischen, strategischen und geopolitischen Interessen humanitär camoufliert. Dadurch werden Konflikte radikalisiert und vergrößert, bis sie eskalieren. Im Kern geht es nicht um die Durchsetzung und Wahrung der Menschenrechte, sondern um eine Machtpolitik, die in der Tradition von Imperialismus und Great Game steht. Nicht Menschenleben, sondern Märkte, nicht humanitäre Hilfe, sondern Truppenstationierung und Ressourcenkampf sind der Motor der neuen Kriege. Kosovo stand dabei am Anfang. Die argumentativ erfolgreiche Bezugnahme zum Holocaust ebnete damit zugleich den Weg zu weiteren Kriegen (Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011), in denen mit der Begründung, einen Diktator zu bekämpfen, die Strategie des Regime-Changes verfolgt und mit unterschiedlichem Erfolg umgesetzt wurde.
Ein Kreis schließt sich
Hier schließt sich ein Kreis, der mit der antiserbischen Haltung des westlichen Bündnisses im jugoslawischen Bürgerkrieg ab 1992 begonnen hatte, mit der Umwandlung der NATO von Verteidigung zu Intervention anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstags im April 1999 während des Kosovo-Krieges fortgesetzt wurde und durch weitere Kriege und Krisen bis in die Gegenwart andauert. Die Rivalität mit Russland und China (die teilweise darauf reagiert haben, teilweise aber auch ihre eigene konfliktverschärfende Politik führen) hat einen neuen Kalten Krieg hervorgebracht mit der Folge, dass die Existenz der vor 70 Jahren gegründeten NATO auch 30 Jahre nach Ende des Kommunismus – zu dessen Eindämmung sie gegründet worden war – und 28 Jahre nach der Selbstauflösung des militärischen Rivalen Warschauer Pakt im öffentlichen Diskurs ihrer Mitgliedsländer unumstritten ist. Die Chance auf eine friedlichere, weniger militärische Welt nach 1991 blieb ungenutzt, und die Folgen beschäftigen uns heute mehr denn je.