Es kommt querbeet in allen Altersklassen und Bevölkerungsschichten vor, egal ob im Arbeiter- oder Akademikermilieu. Doch bis heute ist das Thema häusliche Gewalt ein Tabuthema. Häusliche Gewalt bezeichnet psychische, physische und sexualisierte Gewalt in Partnerschaften und Familien. Gewalt also, die in den „eigenen vier Wänden“ vorkommt. Genau dort, wo sich gerade alle dauerhaft aufhalten sollen.
Momentan, in Zeiten von Corona, wird immer wieder darüber berichtet. Der Fokus der Berichterstattung liegt darauf, dass die Anzahl der Gewaltfälle zunehmen wird, dass die Zufluchtstellen überlaufen sind und dass die Hilfsangebote – sofern sie denn momentan angeboten werden können – nicht ausreichend sind. Die Bundesfamilienministerin Giffey (SPD) spricht von einem Anstieg häuslicher Gewalt und stellt ein Gefälle zwischen Stadt und Land fest. Doch genaue Zahlen gibt es noch nicht, denn darüber zu sprechen, dass man von häuslicher Gewalt betroffen ist, ist nach wie vor tabu.
Genau dieses Tabu macht es für die Betroffenen schwer, sich Hilfe zu holen. Denn mit Scham vor den Nachbarn auf dem Land und mit Kontaktverboten, Ausgangsbeschränkungen, geschlossenen Beratungsstellen und überfüllten Frauenhäusern ist die Hemmschwelle noch höher. Die Flucht in die Wohnung einer Freundin, der Spaziergang mit jemand Vertrautem, die Übernachtung der Kinder bei Freunden – zum Schutz der Kinder –, das alles ist momentan kriminalisiert und kann mit Bußgeldern sanktioniert werden.
In Bayern beispielsweise darf man nur alleine oder mit der „Kernfamilie“ die Wohnung verlassen und das nur aus triftigem Grund. Auch ein Treffen mit einer Freundin an der frischen Luft ist somit verboten. Wer sich in einer Wohnung aufhält, in der er nicht gemeldet ist, blecht bei einer möglichen Kontrolle aller Anwesenden 150 Euro. Über die Verfolgung solcher „Verstöße“ durch die Polizei wird in den letzten Wochen in bayrischen Lokalzeitungen fleißig berichtet.
Was bleibt in dieser Zeit? Der Griff zum Telefon oder anderen „Social Distancing“-kompatiblen Kommunikationswegen. So versuchen Beratungsstellen bundesweit über telefonische Angebote zumindest eine Kontaktmöglichkeit herzustellen. Den Helfenden ist klar, dass das noch nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Denn mehr war das Hilfesystem zu „häuslicher Gewalt“ schon vor der sogenannten Corona-Krise nicht. Frauennotrufe, Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt, Beratungsstellen und Frauenhäuser kämpfen seit Jahren um gesellschaftliche Anerkennung und ausreichende Finanzierung.
Wie Hohn klingt in diesem Zusammenhang die Äußerung der Familienministerin, wenn es um die bundesweite Hotline „Nummer gegen Kummer“ geht. Hier wurde ein Anstieg der Anrufe um 20 Prozent verzeichnet. Hieraus zog Frau Giffey nicht den Schluss, dass es mehr Probleme gebe, sondern „ein Teil des Zuwachses könnte auch dadurch begründet sein, dass man massiv für die Nummer geworben“ habe („Zeit-Online“).
In einer Zeit, in der in diversen Städten fast alle Hilfsangebote weggebrochen sind, ist ein Anstieg von 20 Prozent bei einem bundesweiten Hilfetelefon nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Zeit nach Ausgangssperren, Kontaktverboten und Schließungen von Kitas und Schulen. Das wahre Ausmaß der Gewalt in den Partnerschaften und Familien wird sich dann erst zeigen. Hierfür braucht es niedrigschwellige, gut finanzierte Angebote für direkte und unbürokratische Hilfe.
Burgi Steierer ist Sozialarbeiterin