Die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben sich weiter. Nicht nur, dass schon seit Jahren die drei größten Wirtschaftsmächte der Welt – die USA, China und Japan – am Pazifik liegen, dass Südkorea in die Top 10 drängt und die Staaten des südostasiatischen ASEAN-Bündnisses sich in den Wirtschaftsranglisten konsequent nach oben bewegen. China, nach Kaufkraftparität längst die Nummer eins, wird die Vereinigten Staaten in wenigen Jahren auch in absoluten Dollarwerten als größte Wirtschaftsmacht weltweit ablösen und es setzt darüber hinaus bei den bedeutendsten Zukunftstechnologien zum Sprung an die Spitze an. Ost- und Südostasien boomen, kommen wohl besser durch die Covid-19-Pandemie als der alte Westen, und nun haben 15 Länder der Asien-Pazifik-Region, neben den zehn ASEAN-Staaten China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland, auch noch das größte Freihandelsbündnis überhaupt gegründet: RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) steht für fast ein Drittel der Weltbevölkerung und beinahe 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung – mehr als die drei Länder des United States-Mexico-Canada-Agreement, deutlich mehr als die EU.
RCEP gilt unter bürgerlichen Ökonomen als nicht besonders ehrgeizig: Es wird Jahre dauern, bis lediglich 90 Prozent der Zölle im Warenhandel abgeschafft sein werden. Auch bei den Dienstleistungen bleibt das Abkommen klar hinter anderen Freihandelsverträgen zurück; der Agrarsektor wird weiter auf nationaler Ebene geschützt. Doch das ist ebenso wenig der Punkt wie die Frage, ob und für wen Freihandel nützlich ist. Entscheidend ist: Erstmals schließt sich die asiatisch-pazifische Boomregion umfassend ohne Nordamerika und ohne Europa zusammen. Erstmals wird ausschließlich der Handel von Myanmar bis Japan, von China bis Australien gefördert, ohne die Region gleichzeitig auf die Interessen der früheren westlichen Kolonialmächte zu orientieren. Ost- und Südostasien gewinnen mit RCEP auf lange Sicht neue Eigenständigkeit. Und nicht nur das: Als größtes Freihandelsbündnis überhaupt wird RCEP mit seiner zentralen Nationalökonomie, der Volksrepublik China, in Zukunft wohl auch in der Entwicklung des Welthandels den Takt angeben, wird Standards und Regeln setzen. Konzernverbände in Europa und in Nordamerika klagen bereits, von der sich neu herausbildenden Herzkammer der globalen Ökonomie zu ihrem Nachteil ausgeschlossen zu sein.
Klar: Der alte Westen reagiert auf seine drohende Marginalisierung. Die Bundesregierung hat kürzlich neue „Indo-Pazifik-Leitlinien“ verabschiedet, die die Region zu einem neuen Schwerpunkt ihrer Aktivitäten erklären und besonders auf eine engere Zusammenarbeit mit den ASEAN-Staaten zielen, um diese als ein Gegengewicht gegen China zu formieren. Eine engere Militärkooperation unter anderem mit Australien ist geplant. Dorthin soll in Kürze eine deutsche Fregatte entsandt werden, um gemeinsame Kriegsoperationen zu üben. Auch die USA verstärken ihre Bestrebungen, einen tiefen Keil zwischen die Länder Südostasiens und die Volksrepublik zu treiben, dazu haben sie in diesem Jahr ihre Manöver im Südchinesischen Meer ausgeweitet – gemeinsam mit Australien.
Durchschlagende Erfolge bleiben freilich aus. Natürlich gebe es Konflikte mit Peking, etwa die Streitigkeiten um Inseln im Südchinesischen Meer, räumte kürzlich der indonesische Diplomat und Ex-Vizeaußenminister seines Landes, Dino Patti Djalal, ein, man kenne aber Wege, sie zu lösen – und überhaupt: Mit Blick auf die äußerst enge Wirtschaftsverflechtung mit China habe kein Staat der Region Interesse, sich aggressiv gegen die Volksrepublik zu positionieren. Im Oktober hat beispielsweise Indonesien die USA abblitzen lassen, als die darauf drangen, Spionageflugzeuge für Flüge über dem Südchinesischen Meer in dem riesigen Inselstaat zwischenlanden zu lassen. Eine Gewähr für die Zukunft gibt es natürlich nicht. Festhalten darf man jedoch: Ein Teil der neuen Herzkammer der Weltwirtschaft zu sein, das hat für die Länder Südostasiens Gewicht.