Ist die Monopolbourgeoisie tatsächlich auf die aktive Mitarbeit und Teilnahme der Bevölkerungsmehrheit angewiesen?

Herrschaftssystem ausgespart

Lucas Zeise, Frankfurt a.M.

Die Bildungszeitung, von der hier so kontrovers die Rede ist, hat Mängel. Der Vorwurf, der ihr aber von 22 Autoren („weil in der Bildungszeitung der Vorrang des Kampfes gegen das Kapital gegenüber dem Kampf um Demokratie und gegen den Faschismus gepredigt wird“, UZ vom 9. Oktober) gemacht wird, ist ungerecht. Denn eine solche Aussage, geschweige denn eine solche Predigt, ist in dem Text nicht zu finden. Vielmehr versuchen die Autoren der Zeitung deutlich zu machen, „dass die Ursache der Rechtsentwicklung und der Faschismusgefahr nicht bei den Nazis und ihrem Anhang zu suchen ist, sondern beim Herrschaftsbedarf der Monopole“. Einen Vorrang des Kampfes gegen das Kapital gegenüber dem Kampf um Demokratie – oder umgekehrt – zu fordern, wäre also unsinnig. Die Bildungszeitung befindet sich damit, anders als von den 22 Autoren behauptet, völlig im Einklang mit dem, was KPD und DKP zu diesem Thema gesagt haben, dass nämlich für Kommunisten der Kampf um demokratische Rechte und gegen den Faschismus ein Bestandteil des Kampfes gegen die Monopole und ihre Herrschaft ist.

Ein erheblicher Mangel dieser Bildungszeitung besteht meiner Meinung nach darin, dass sie ihr eigentliches Thema (Titel „Reaktionärer Staatsumbau“), das Herrschaftssystem, nicht behandelt sondern ausspart. Das beginnt mit dem vorangestellten Zitat von Reinhard Opitz und dessen erstem Satz: „In Klassengesellschaften (…) ist der Zusammenhang der Gesellschaft nur herstellbar entweder durch offene, direkten physischen Zwang ausübende herrschaftliche Gewalt oder durch auf falschem Bewusstsein beruhende subjektive Zustimmung der Beherrschten.“ In diesem Entweder-Oder des Opitz-Zitats verschwindet das eigentlich Interessante, nämlich der Herrschaftsapparat oder auch das Herrschaftssystem.

Es funktioniert im Regelfall sowohl ohne direkten physischen Zwang als auch ohne subjektive Zustimmung der Beherrschten. Es besteht gerade in der Fähigkeit der herrschenden Klasse, Verhältnisse (Institutionen – nicht nur die des Staates, Gesetze, Steuern, ökonomischer Zwang, Sitten und Regelnund so weiter) so herzustellen, dass den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft objektiv keine Möglichkeit bleibt, als sich anzupassen beziehungsweise unterzuordnen. Das Herrschaftssystem stellt diesen „Zusammenhang der Gesellschaft“ immer wieder neu her. Es ist Ausdruck der ökonomischen Klassenverhältnisse und basiert auf ihnen. Und es bedarf nur im Ausnahmefall der Durchsetzung direkten physischen Zwangs. Im Teil 1 der Bildungszeitung heißt es richtig: „Herrschaft ist ein Verhältnis, in dem die Herrschenden den Beherrschten ihre Interessen aufzwingen können.“ Eine Darstellung, wie diese Herrschaft funktioniert, wird aber nicht geliefert – an dieser Stelle nicht und auch nicht später, wenn es um die Modifizierung dieser Herrschaft im Monopolkapitalismus geht.

Fragwürdig erscheint mir sodann die These, mit der Entwicklung des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium sei die Monopolbourgeoisie zu ihrer Herrschaftsausübung stärker als zuvor auf die aktive Mitarbeit und Teilnahme der Bevölkerungsmehrheit angewiesen. In der Bildungszeitung (S. 5) steht: „Im Imperialismus aber erhebt die Monopolbourgeoisie Anspruch auf eine Gesellschaft, in der alle ihre Glieder sich als Rädchen in die imperialistische Maschinerie einfügen.“ Als Begründung werden der höhere Vergesellschaftungsgrad der Arbeit, die stärkere ökonomische Rolle des Staates und der „Druck der internationalen Konkurrenz“ angeführt. Empirisch wird auf den Ersten Weltkrieg verwiesen. „Man brauchte Menschenmassen, die bereit sind, im Schützengraben zu morden und sich ermorden zu lassen“ (S. 5). Der Krieg scheint mir allerdings als Beispiel für erfolgreiche freiwillige Integration besonders absurd. Deserteure und Befehlsverweigerer wurden schließlich erschossen. Die These, die Monopolbourgeoisie sei auf die aktive Mitarbeit und Teilnahme der Bevölkerungsmehrheit angewiesen, scheint bestenfalls fragwürdig. Im Konkurrenzkampf mag zwar die jeweils herrschende nationale Klasse einen gewichtigen Vorteil haben, die über die bereitwillige Unterstützung durch die von ihr Beherrschten verfügt. Aber angewiesen sein ist doch von anderer Qualität.

Die Teile 2 (Manipulation der Massen) und 3 (Grenzen der Integration) hängen nach Wegfall dieser These in der Luft. Sie sind damit als Diskussionsgrundlage des Herrschaftssystems und der aktuellen Rechtsentwicklung kritikwürdig, aber nicht unbrauchbar.

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"Herrschaftssystem ausgespart", UZ vom 30. Oktober 2020



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