Vor 100 Jahren machten Elend und Inflation der Arbeiterklasse deutlich, dass sie nichts zu verlieren hat

Herbst 1923 – Vorspiel zum Aufstand

Das Jahr 1923 stellt den zweiten Höhepunkt der revolutionären Nachkriegskrise dar. Die Arbeiterklasse wehrte sich gegen Inflation, Massenelend, Ruhrbesetzung und drohenden Faschismus. Millionen traten in den Generalstreik. In Mitteldeutschland traten Kommunisten in Arbeiterregierungen ein. Die Hamburger Arbeiter gaben das Signal zum Aufstand gegen Kapital und Reaktion. Wir veröffentlichen einen Auszug aus „Das andere Geschichtsbuch. Streifzüge durch die neuere deutsche Geschichte“ von Fritz Krause und Robert Steigerwald.

100 Jahre HH - Herbst 1923 – Vorspiel zum Aufstand - Hamburger Aufstand 1923 - Theorie & Geschichte

Im November und Dezember 1922 tagte in Moskau der IV. Weltkongress der Komintern, der als letzter Kongress unter der Leitung Lenins stand. Aus den Erfahrungen der Arbeiterbewegung seit dem Ersten Weltkrieg wurde das Fazit gezogen: „Zwischen der gegenwärtigen Periode der Herrschaft der offenen bürgerlichen Reaktion und dem vollen Sieg des revolutionären Proletariats über die Bourgeoisie liegen verschiedene Etappen und sind verschiedene vorübergehende Episoden möglich. Die Kommunistische Internationale und ihre Sektionen müssen auch diese Eventualitäten ins Auge fassen; sie müssen verstehen, bei jeder Lage, die revolutionäre Position zu verteidigen.“

Die Arbeiterregierung wurde auf dem Kongress als Entwicklungsstufe auf dem Wege zur Diktatur des Proletariats eingeschätzt. Die Losung der Arbeiterregierung entsprach einem Kräfteverhältnis, wo einerseits die Macht der Bourgeoisie noch nicht gefestigt war, andererseits aber das Proletariat noch nicht bereit war, unmittelbar um die Diktatur des Proletariats zu kämpfen.

Ruhrbesetzung

Zu Beginn des Jahres 1923 spitzten sich die Widersprüche zwischen dem deutschen und dem französischen Monopolkapital zu. Um die Gegensätze zwischen den Siegermächten zu verschärfen, stellten die deutschen Kapitalisten Anfang 1923 ihre Reparationszahlungen an Frankreich ein. Frankreich besetzte daraufhin – wie beabsichtigt – das Ruhrgebiet, ohne Zustimmung der USA und Britanniens. Die Regierung Cuno rief zum „passiven Widerstand“ gegen die Besatzungsbehörden auf. Unter der Parole der „nationalen Einheitsfront“ sollte die Arbeiterklasse davon abgelenkt werden, dass ihr Hauptfeind im eigenen Land stand. Während die herrschende Klasse versuchte, ihre eigenen Profitinteressen als die nationalen Interessen des ganzen deutschen Volkes auszugeben, wälzte sie gleichzeitig die durch die Ruhrbesetzung verschärfte Wirtschaftskrise auf die lohnabhängige Masse ab, indem sie die Inflation beschleunigt vorantrieb.

Ende Januar 1923 beschloss die Zentrale der KPD den berühmten Aufruf „Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree!“. In diesem Dokument enthüllte die Partei den imperialistischen Charakter des Ruhrkampfes. Die Ursache der Besetzung war nämlich der Versuch der französischen Monopole, ihren deutschen Partnern nur 40 Prozent der Anteile an dem geplanten französisch-deutschen Kohlen- und Stahlsyndikat zu überlassen. Nachdem dieses Projekt gescheitert war, provozierten die deutschen Monopolherren die Ruhrbesetzung, indem sie ihre Reparationszahlungen einstellten. Die KPD rief die Arbeiterklasse dazu auf, den Kampf gegen den französischen Imperialismus nicht mit, sondern gegen die deutsche Bourgeoisie zu führen; sie hob hervor, dass die nationalistischen Stimmungen, die die herrschende Klasse zu wecken versuche, nur ihr nütze.

8. Parteitag der KPD

In dieser Situation fand Ende Januar/Anfang Februar 1923 der 8. Parteitag der KPD in Leipzig statt. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Probleme der Einheitsfront und der Arbeiterregierung. Aufgrund der sich im Zuge der Ruhrbesetzung verschärfenden Klassenwidersprüche in Deutschland gewannen diese Fragen eine besondere praktische Bedeutung. In der Diskussion dieser Fragen zeigte sich, dass der Prozess der Aneignung des Leninismus in der KPD noch immer nicht abgeschlossen war. Schließlich nahm der Parteitag mit 118 gegen 59 Stimmen die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung“ an, die mit den Ergebnissen des IV. Weltkongresses übereinstimmten, aber auch Ansätze rechtsopportunistischer Orientierungen enthielten. Die „Leitsätze“ berücksichtigten in ungenügendem Maße die Notwendigkeit für eine Arbeiterregierung, im Zuge des sich verschärfenden Klassenkampfes über den Rahmen der bürgerlichen Legalität hinauszugehen. Diese Unklarheiten, die auf dem Parteitag nicht restlos ausdiskutiert wurden, hatten in der Folgezeit noch ernste Folgen

Einheitswille in der Arbeiterklasse

Die rasche Verelendung der Arbeiterklasse und der übrigen werktätigen Schichten führte zu zahllosen örtlichen Streiks und Bewegungen für die Verbesserung der materiellen Situation des Volkes. Der wachsende Einheitswille der Arbeiterklasse kam in dem raschen Aufschwung verschiedener Massenbewegungen und Einheitsfrontorgane wie der revolutionären Betriebsrätebewegung zum Ausdruck, die immer häufiger als organisierende Kraft in den Kämpfen der Arbeiterklasse gegen die Verelendungspolitik der herrschenden Klasse auftrat. Eine andere Form der Einheitsfront waren die Kontrollausschüsse, die als Selbsthilfeorganisationen gegen Preiswucher und Schwarzhandel auftraten; an dieser Bewegung nahmen besonders viele werktätige Frauen teil. Die Kontrollausschüsse kämpften für die Herabsetzung überhöhter Preise, die kostenlose Verteilung oder den verbilligten Verkauf von beschlagnahmter Schieberware oder die Umquartierung von Arbeitern aus Kellerlöchern in leerstehende Wohnungen. Auf Initiative der KPD und der revolutionären Betriebsräte entstanden vielerorts die proletarischen Hundertschaften, die kommunistische, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter vereinten. Sie dienten dem Schutz von Streiks und Demonstrationen und als Selbstschutzformation des Proletariats gegen die wachsende faschistische und militaristische Gefahr.

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… im Oktober schon ist ein Rechnungsblock auf der Rückseite von Ein-MillionenScheinen üblich. Ein neuer Block hätte Milliarden gekostet. (Foto: Bundesarchiv, Bild 102-00193 / CC BY-SA 3.0 / Bearb.: UZ)

Die Streikbewegung wurde in der zweiten Maihälfte immer stärker: Ende Mai 1923 standen im Ruhrgebiet 380.000 Arbeiter im Ausstand; in Schlesien streikten 100.000 Berg- und Hüttenarbeiter sowie 120.000 Landarbeiter; in Berlin legten über 130.000 Metallarbeiter die Arbeit nieder. Im Zuge dieser Bewegung polarisierten sich auch innerhalb der Arbeiterbewegung die beiden Klassenlinien immer mehr. Während die reformistische Strömung, verkörpert in den Führungen der SPD und der Gewerkschaften, immer mehr an Boden verlor, konnte die KPD ihren Einfluss vertiefen. Auf der anderen Seite aber wuchs vor dem Hintergrund der durch die Ruhrbesetzung ausgelösten nationalistischen Welle die faschistische Gefahr immer mehr an.

Generalstreik gegen Cuno

Als während des Sommers 1923 die Inflation immer katastrophalere Ausmaße annahm, verstärkte sich der Druck der Massen gegen die Verschlechterung der Lebenssituation einerseits und für die Arbeitereinheit andererseits. Am 11. August beschloss eine Berliner Betriebsrätevollversammlung einen dreitägigen Generalstreik zum Sturz der Regierung Cuno und zur Durchsetzung einer Reihe von ökonomischen, sozialen und politischen Forderungen, darunter die Sicherung der Ernährung des Volkes, die Festsetzung eines Minimalstundenlohnes und die Aufhebung des Demonstrationsverbotes. Am nächsten Tag erklärte Cuno seinen Rücktritt; wiederum einen Tag später, am 13. August, wurde eine Regierung der großen Koalition unter Führung Gustav Stresemanns gebildet. Die Berliner Arbeiter setzten ihren Streik mit dem Ziel fort, alle ihre Forderungen durchzusetzen und auch die Regierung Stresemann zu stürzen. Ihnen schlossen sich die Arbeiter vieler anderer Gebiete in Deutschland an, so dass am 13. und 14. August 1923 etwa 3.000.000 Arbeiter im Generalstreik standen. Doch der Streik bröckelte bald ab, da die SPD und die Gewerkschaftsführung alles daran setzten, die Streikfront zu spalten.

Im Gegensatz zu der Haltung der reformistischen Führer war der Wille zur gemeinsamen Aktion unter den Mitgliedern der SPD und der Gewerkschaften groß. Als nach dem Abbruch des Streiks die Unternehmer zusammen mit der neuen Regierung zum massiven Angriff übergingen, als Tausende von Arbeitern wegen ihrer Beteiligung an dem Generalstreik entlassen wurden, die Inflation im Herbst 1923 auf den Höhepunkt getrieben wurde, bildeten sie gemeinsam mit Kommunisten Aktionsausschüsse, um sich auf die Pläne der herrschenden Klasse, eine Militärdiktatur zu errichten, vorzubereiten. Mitte August 1923 wurden in Preußen die revolutionären Betriebsräte verboten; dem Beispiel folgte in den folgenden Wochen die Mehrzahl der deutschen Länderregierungen. Einen Monat später verhängte Friedrich Ebert den militärischen Ausnahmezustand über das ganze Reich. Diese Schritte zeugten von einer tiefen Krise der bürgerlichen Staatsmacht. Die Bourgeoisie war nicht mehr in der Lage, ihre Herrschaft mit herkömmlichen demokratischen Mitteln aufrechtzuerhalten.

Arbeiterregierungen …

Die KPD ging davon aus, dass sich Ende 1923 eine revolutionäre Situation anbahnte und begann daher, Maßnahmen für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes zu treffen. Es wurde ein Militärischer Rat geschaffen, an dessen Spitze Ernst Schneller trat; in den Grundorganisationen wurden militärische Übungen abgehalten. Doch während die Partei diese Vorbereitungen für den bewaffneten Aufstand sorgfältig traf, vernachlässigte sie die Entfaltung breiter Massenkämpfe um soziale Verbesserungen. Die großen Sympathien, die große Teile der Arbeiterklasse der KPD entgegenbrachten, wurden mit der Bereitschaft der Massen gleichgesetzt, unter Führung der KPD „in den Entscheidungskampf zu treten“.

Mitte Oktober 1923 wurden in Sachsen und in Thüringen Landesregierungen unter Beteiligung der KPD gebildet, die im ganzen Reich ein lebhaftes Echo fanden und von den Arbeitermassen als eine Antwort auf die Sammlung der faschistischen Kräfte aufgefasst wurden. Doch die Unklarheiten in der Staatsfrage, die auf dem 8. Parteitag der KPD hervorgetreten waren, zeigten hier ihre Auswirkungen: Die Arbeiterregierungen unternahmen nichts, um den Staatsapparat zu verändern oder um die materielle Situation der Lohnabhängigen zu verbessern. Georgi Dimitroff kritisierte auf dem VII. Weltkongress die Fehler der Kommunisten in den mitteldeutschen Arbeiterregierungen mit folgenden Worten: „Die Kommunisten, die sich an der Regierung beteiligten, hätten ihre Positionen vor allem zur Bewaffnung des Proletariats ausnützen müssen. Sie haben das nicht gemacht. Sie haben nicht einmal eine einzige Wohnung der Reichen beschlagnahmt, obwohl die Wohnungsnot der Arbeiter so groß war, dass viele mit Frau und Kind kein Obdach hatten. Sie unternahmen auch nichts, um die revolutionäre Massenbewegung der Arbeiter zu organisieren. Überhaupt verhielten sie sich wie gewöhnliche parlamentarische Minister im Rahmen der bürgerlichen Demokratie.“

… und Aufstand

Die Erwartungen der Massen wurden nicht befriedigt. Es gelang den Arbeiterregierungen nicht, sich rasch eine Vertrauensbasis zu schaffen. Elf Tage nach Antritt der Regierung begann der Einmarsch der Reichswehr in Sachsen, um die verfassungsmäßig zustande gekommenen Regierungen in Mitteldeutschland zu beseitigen.

Am Vorabend hatte die Führung der KPD beschlossen, den Generalstreik einzuleiten, aus dem sich der seit Längerem vorbereitete bewaffnete Aufstand entwickeln sollte. Der Aufruf dazu sollte von einer Konferenz der sächsischen Regierung mit Vertretern der Betriebsräte und der Gewerkschaften ausgehen, der für den 21. Oktober 1923 nach Chemnitz einberufen war. Am 23. Oktober sollte in Hamburg der bewaffnete Kampf ausgelöst werden, als Signal für die Erhebung in ganz Deutschland. Als der Vertreter der KPD auf der Chemnitzer Konferenz den sofortigen Generalstreik forderte, zeigte sich, dass die Aktion völlig ungenügend vorbereitet war: Die linken Sozialdemokraten zogen nicht mit. Die Zentrale der KPD sah sich daher gezwungen, den Beschluss über den Generalstreik und den bewaffneten Kampf aufzuheben.

In Unkenntnis des Ausgangs der Chemnitzer Konferenz jedoch löste die Hamburger Parteiorganisation am 23. Oktober 1923 die Erhebung aus. Trotz anfänglicher Erfolge musste der Kampf der Hamburger Arbeiter nach zwei Tagen abgebrochen werden, da der Aufstand isoliert geblieben war und die Polizeitruppen von außerhalb verstärkt worden waren.

Auch in Mitteldeutschland erlitten die Arbeiter eine schwere Niederlage: Die Reichswehrtruppen gingen brutal gegen die Werktätigen vor; die revolutionären Arbeiter wurden verfolgt. Tausende wurden eingesperrt und verurteilt. Am 23. November 1923 wurde die Kommunistische Partei Deutschlands verboten.

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"Herbst 1923 – Vorspiel zum Aufstand", UZ vom 6. Oktober 2023



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