Die Hiobsbotschaft kam nicht unerwartet. Schon lange sind Betriebsrat und Belegschaften in Kenntnis über geplante Massenentlassungen.
Im August sagte die Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Siemens, Birgit Steinborn, dem „Tagesspiegel“: „Seit mehreren Jahren verhandeln wir quartalsweise im Wirtschaftsausschuss Stellenabbauprogramme.“ Ihr war also bewusst, dass die Beschäftigten sich in absehbarer Zeit auf empfindliche Einbußen einstellen müssen. Grundsätzlich kritisierte sie den fortlaufenden Konzernumbau unter Vorstandschef Joe Kaeser. Viereinhalb Jahre sei über die Ausgliederung von rund 30000 Beschäftigten und den Abbau von 15000 Jobs verhandelt worden. Weiterhin sei geplant, die bisher fünf Sparten in drei operative Einheiten für Gas und Energie, gepflegte Infrastruktur und digitale Industrie aufzuteilen. In der Kraftwerkssparte will Siemens zudem weltweit 6 900 Arbeitsplätze abbauen, davon rund 3 000 in Deutschland. Ende September kam die Bestätigung: Bundesweit sollen 2 900 Stellen vernichtet werden. Das Duisburger Werk, das Kompressoren für die Gas- und Ölindustrie herstellt, verliert 220 der 2 400 Stellen. Auf der Betriebsversammlung kürzlich informierte Werksleiter Marcus Brücher über die am Standort Duisburg geplanten Maßnahmen. Der Konzern werde „den Stellenabbau so sozialverträglich wie möglich gestalten“. Betroffene würden unterstützt mit einem „umfangreichen Angebot, neue Perspektiven zu finden“. In erster Linie gehe es um die Vermittlung einer neuen Arbeitsstelle auch in anderen Unternehmen. Oder Hilfestellung bei einer Existenzgründung und schließlich Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Vorruhestand, Altersteilzeit oder Aufhebungsvertrag. So großzügig geht der Konzern mit den Arbeiterinnen und Arbeitern um, die er loswerden will. Daran anknüpfend erklärte die Duisburger Betriebsratvorsitzende Nadine Florian in ihrer heiteren Art, es sei gelungen, „gute Pakete zu schnüren“ für die vom Stellenabbau betroffenen Mitarbeiter. Dass die Geschassten dies auch so sehen darf bezweifelt werden.
Für das Mülheimer Dampfturbinenwerk stehen von den 4 500 Arbeitsplätzen 600 auf der Kippe. Der Mülheimer Betriebsratschef Pietro Bazzoli verwies auf die monatelangen zähen Verhandlungen, wobei zunächst 741 Jobs gestrichen werden sollten. Dass weniger Jobs wegfallen als vorgesehen sei dem Verhandlungsgeschick des Betriebsrates zuzuschreiben. Jürgen Kerner, Vorstandsmitglied der IG Metall und stellvertretender Vorsitzender im Siemens-Aufsichtsrat, traf zudem die kühne Behauptung: „Betriebsbedingte Kündigung wird es weder jetzt noch in Zukunft geben.“ Sein Optimismus erhielt durch Personalvorstand Janina Kugel jedoch einen Dämpfer, indem sie sich zu dieser Frage Journalisten gegenüber sehr bedeckt hielt. Zu einer klaren Aussage war sie nicht zu bewegen.
Künftig sollen in Mülheim auch große Elektromotoren gebaut werden. Für das Berliner Werk hat dies zur Folge, dass dieser Teil der Produktion nach Mülheim verlegt wird. Die Chefin des Siemens-Personalvorstands, Janina Kugel, bemerkte hierzu: „Mitarbeiter erhalten die Möglichkeit, an den neuen Standort zu wechseln. Inwieweit das in Anspruch genommen wird, müssen wir abwarten – erfahrungsgemäß sind das nur relativ wenige.“ Eine Unverfrorenheit sondergleichen. Jahrzehntelang haben Berliner Arbeiterinnen und Arbeiter sich für Siemens abgeplackt, und nun wird ihnen der Weg nach Mülheim zugemutet oder sie dürfen sich in die Arbeitslosigkeit begeben; sozusagen als „Humankapital“ ausgegliedert, da es nicht mehr benötigt wird.
Begründet wird die enorme Stellenstreichung mit dem Umbau der angeschlagenen Kraftwerkssparte. Offensichtlich hat der Konzern auf die Energiewende zu spät reagiert. Inwieweit er mit der Produktion von Elektro-Großmotoren ins große Geschäft kommen wird scheint ungewiss. Außerhalb des Konzerns war zu hören, dass Siemens die Produktion von Energie-Großspeichern bisher nicht in Betracht gezogen hat, weil die Konzernzentrale sich nicht traut. Arbeitsplätze hätten gerettet werden können, neue Arbeitsplätze wären womöglich entstanden. Stattdessen Streichung tausender Stellen.
Noch ist kein Ende in Sicht. Mitte August berichtete das „Manager Magazin“, Konzernchef Joe Kaeser habe in Einzelgesprächen mit mehreren Investoren zum Ausdruck gebracht, dass der geplante Umbau bei Siemens 20000 Arbeitsplätze „überflüssig“ machen könnte. Betroffen wären vorwiegend Mitarbeiter in der Zentrale in Bereichen wie Personal, Finanzen oder Recht. Die bisherigen Praktiken des Konzerns lassen für Angestellte nichts Gutes ahnen.
Siemens beschäftigt weltweit 370000 Menschen. Mit dem verkündeten Plan will Siemens jährlich insgesamt 500 Millionen Euro einsparen, davon 270 Millionen in Deutschland.
Während die Umsetzung all dieser Vorhaben angekurbelt ist, berichtet der „Spiegel“ in seiner Ausgabe Anfang September, dass die Türkei den Bau eines modernen Bahn-Hochgeschwindigkeitsnetzes mit deutschem Geld und Know-how erwägt. Unter Führung von Siemens soll ein Konsortium neue Strecken planen, alte elektrifizieren und moderne Signaltechnik installieren. Der Auftragswert, so verlautet, werde auf 35 Milliarden Euro beziffert; einschließlich der Lieferung neuer Züge. Die Kassen werden klingeln. Die Gespräche dauern fort.